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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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Stunden dort, doch Unni sitzt in seinem Zimmer hinter verschlossener Tür am Schreibtisch. Sie hockt mit Thoma in der Diele auf dem Boden und bringt ihm bei, wie man Wasserfarben mischt und so neue Farben kreiert. Irgendwann merkt sie, dass Unni in der Tür steht und zusieht. Sie lächelt ihn an.
    «Woran denkst du?», fragt sie.
    «Daran, dass du vielleicht nie dasselbe sehen kannst wie ich.»
    «Was siehst du denn?»
    «Ich sehe wunderschöne Dinge. Und dann habe ich gedacht, Mythili wird vielleicht nie im Leben sehen, was ich sehe. Was für sie bestimmt ist, wird Mythili nie erblicken.»
    «Du bist ja verrückt, Unni.»
    «Und wenn nicht?»
    ~
    Thoma Chacko wacht früher auf als sonst und versucht, zu verstehen, was mit ihm los ist. Sein Kopf ist schräg nach rechts geneigt, als betrachte er die Welt mit Zuneigung. Wie im Traum geht er in die Küche und fühlt sich wie der Geist eines Jungen, der gehängt wurde und jetzt seine Mutter sucht, weil er ihr sagen will, was man ihm angetan hat.
    Seine Mutter spült das Geschirr, ihr Sari ist bis zu den Knien hochgerafft. Sie hält kurz inne, steht ganz still da, den Dampfkochtopfdeckel in der einen Hand und ein nasses Scheuertuch in der anderen. Während sie die Deckelinnenseite ganz langsam in Kreisen bearbeitet, zeigt sich ein flüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie singt ein Wiegenlied.
    Es ist Abend geworden und still ringsum. Das Wiegenlied klingt süß und traurig, wie alle Wiegenlieder. Unni hatte ihn einmal darüber aufgeklärt, was es mit den Wiegenliedern auf sich hat. «Wenn du genau hinhörst, Thoma, dann merkst du, dass ein Wiegenlied traurig ist. Darin liegt sein Geheimnis.»
    «Warum ist es traurig, Unni?»
    «Das kann ich dir nicht erklären, Unni. Du bist noch zu klein. Aber ich habe gehört, dass Mütter diese Lieder ursprünglich sangen, weil sie um die Geburt ihrer Babys trauerten. Das war so üblich. Man wird dir erzählen, Thoma, Wiegenlieder klängen nur traurig, weil sie, um die Babys in den Schlaf zu wiegen, so leise gesungen würden. Aber in Wirklichkeit sind diese Lieder traurig, weil sie traurig sein sollen. Weißt du was, Thoma, sogar heute noch gibt es bei manchen afrikanischen Stämmen Wiegenlieder, die sich nicht von Begräbnisliedern unterscheiden.»
    Jetzt, da Thoma älter ist, weiß er, dass jeder Schwindler afrikanische Stämme ins Spiel bringt. Vor allem Unni. Doch während er so in der Abenddämmerung steht und seiner Mutter zuhört, muss er zugeben, dass das Lied, dem er lauscht und das zu seinen frühesten Erinnerungen zählt, von aufwühlender Traurigkeit ist. Als sie ihn endlich wahrnimmt, fragt sie: «Was ist denn mit dir?»
    «Ich hab mir den Hals gebrochen», sagt er.
    Sie kommt mit ihren starken Armen auf ihn zu. «Du hast dir einen steifen Hals geholt, Thoma. Es ist nichts weiter. Mit der Dorfmethode lässt sich das schnell in Ordnung bringen: Ein schneller Kopfruck, und du bist geheilt. Und du spürst keinerlei Schmerz.»
    Er schreit: «Es ist keine Verrenkung. Ich sag dir, es ist was viel Schlimmeres.»
    Sie sieht sich seinen Hals genau an und entscheidet in diesem Zweifelsfall zu seinen Gunsten. Früher war sie sich ihrer Sache immer sehr sicher, doch Unnis Tod hat alle ihre Überzeugungen erschüttert.
    Sie schnappt sich die Kokosölflasche vom Regal, und bevor Thoma widersprechen kann, träufelt sie ihm ein wenig Öl in sein angehobenes linkes Ohr. Er kann nur dastehen und es über sich ergehen lassen, als sei sein Ohr ein Bottich. Normalerweise wehrt er sich gegen diese Prozedur, doch an diesem Morgen hat sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. «In deinem Ohr ist zu viel Ohrenschmalz, Thoma.»
    «Haben wir denn Geld, um in die Klinik zu gehen?»
    «Wir müssen in die Klinik, Thoma. Und dazu müssen wir uns zuerst in Jagos Kammer schleichen.»
    Auf Zehenspitzen gehen sie in Ouseps Schlafzimmer. Seine Lungischlinge hängt vom Deckenventilator herunter. Er schläft splitternackt, mit offenem Mund und weit gespreizten Beinen,und seine Hoden liegen auf seinem Leib wie ein außerirdisches Haustier. Sie deckt ihn mit einem Laken zu, und beide stehen da und starren ihn an. Er gibt kein Lebenszeichen von sich, sein Atem ist weder zu sehen noch zu hören, seine Augen sind halb geöffnet. Doch dann wackelt er mit den Zehen, woraufhin Mariamma und Thoma sich von seinem Bett abwenden.
    Sie öffnet vorsichtig die Tischschublade und nimmt Ouseps dünne Lederbrieftasche heraus. Dann spitzt sie mit einem Blick auf Thoma

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