Das verbotene Glück der anderen
sie seien etwas Besseres.
Als sie verschwunden ist, kehrt der betäubende Stumpfsinn zurück. Die Jungen haben nichts, worüber sie lachen können, und wissen nichts mit sich anzufangen. Gelegentlich heben sie kurz die Köpfe und blicken hoffnungsvoll zu Mythilis Balkon hinauf, auf dem im Moment niemand zu sehen ist.
Früher stand sie auf dem Balkon und rief nach Unni. Manchmal, wenn ihr danach zumute war, schrie sie laut seinen Namen und imitierte dabei die Stimmen der Älteren, die dort wohnten. Unni ging dann immer mit müder Arroganz durch das Schlafzimmer seines Vaters, ohne Angst und Respekt, und öffnete die schmale Balkontür. Vom Balkon aus unterhielt er sich dann manchmal über eine Stunde mit dem Mädchen auf dem anderen Balkon. Unni sagte meist nicht viel, doch sie redete umso mehr und beklagte sich dann über ihre Freunde oder ihre Lehrer. Manchmal flüsterte sie etwas über ihre Mutter und kicherte. Das war zu einer Zeit, als sie noch mit Männern reden durfte.
Ousep hat genug von dem feuchtheißen Abend, er muss jetzt irgendwohin, wo Überfluss herrscht, und dort in Ruhe ein Glas trinken, vielleicht auch mehr. Es handelt sich um etwas Zwangsläufiges, das sich als Entscheidung maskiert. So sind Trinker. Als hätte er eine Alternative, umgibt er sich mit der Würde, frei wählen zu können. Doch hat man auf der Welt die Wahl? Könnte es sein, dass alles menschliche Handeln nur etwas Zwangsläufiges ist, das sich als Entscheidung ausgibt, und dass das Leben den Süchtigen Würde verleiht, indem es ihnen eine freie Wahl vorgaukelt?
Als er den Balkon gerade verlassen will, bemerkt er etwas am Ende der Balaji Lane. Er versteht nicht, was sich dort abspielt, aber anscheinend wissen es alle anderen. Ein Fremder geht die Gasse hinunter, ein junger Mann, dessen Gesicht nicht klar zu erkennen ist. Während er an den anderen Wohnblocks vorbeigeht,unterbrechen die Jungen ihr Spiel und starren ihn an, andere stehen mit großen Augen auf der Mauer. Auf den Balkonen erscheinen Mädchen, die sich die Haare aufwickeln und hinunterblicken. Männer und Frauen zeigen auf den jungen Mann und reden miteinander und nicken mit den Köpfen. Eine Schar kleiner und großer Jungen läuft nun hinter dem jungen Mann her. Die Neuigkeit hat gerade im Wohnblock A die Runde gemacht, und die Kinder rennen auf die schmale Straße hinaus, manche klettern auf die Grundstücksmauer und stellen sich aufrecht hin, um besser sehen zu können. Sogar die großen Jungen stehen auf der Mauer. Auf der gesamten Mauer stehen jetzt Jungen in allen Größen und blicken nach rechts. Immer mehr Leute erscheinen auf den Balkonen. Der junge Mann kommt jetzt mit der Schar Jungs näher. Die Aufmerksamkeit, die ihm von überall zuteilwird, lässt ihn unberührt. Und nun sieht man klar und deutlich, was er in der Hand hält: einen roten Korb mit Gemüse. Wie durch ein Wunder betritt die Erscheinung Wohnblock A. Noch unglaublicher ist, dass sie mit Thoma spricht, der sichtlich benommen und ungeschickt von der Mauer herunterklettert.
Ousep erkennt den jungen Mann jetzt. Er war in Unnis Klasse. Vor drei Jahren hat ihn Ousep einmal getroffen, Wochen, bevor der Junge berühmt wurde. Balki hatte es nicht nur aufs IIT geschafft, sondern wurde beim JEE Zweitbester von ganz Indien, von einhunderttausend Aufnahmeprüfungskandidaten. Das Treffen mit ihm war sehr kurz gewesen und hatte nicht viel ergeben, weswegen Ousep damals beschloss, sich nicht wieder mit ihm zu verabreden. Doch nun sieht es ganz so aus, als käme Balki aus irgendeinem Grund nach Hause. Thoma, der plötzlich vor Wichtigkeit glüht, geleitet den Star. Die Schar Jungen verschwindet in den Treppengängen. Ist das der Durchbruch, auf den Ousep gewartet hat?
Er lässt die Wohnungstür auf und wartet. Mariamma wird daraufaufmerksam, bekommt einen fragenden Blick und wartet gemeinsam mit ihm. Beim Anblick der vielen Jungen vor ihrer Tür fängt sie an zu zittern. «Was ist passiert? Was ist mit meinem Jungen passiert? Ist mit Thoma alles in Ordnung?», ruft sie. Dann entdeckt sie Thoma in der Menge und legt sich keuchend die Hand ans Herz. Thoma bringt Balki in die Wohnung. Die Schar Jungen kommt nicht mit, will aber auch nicht gehen. Ein Junge fragt nervös: «Balki, glaubst du an Gott?»
«Ja», antwortet Balki mit seiner erstaunlichen Baritonstimme.
«Was für ein Zufall. Selbst ich glaube an Gott.»
«Okay, Jungs», sagt Balki. «Vielen Dank. Ich muss jetzt mit Unnis Eltern sprechen.
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