Das verbotene Glück der anderen
oder andere ehemalige Wunden auf der Stirn oder am Mund?», fragt Ousep.
«Nein», antwortet Balki. «Warum fragen Sie das?»
«Aus reiner Neugier. War er schon immer Physiklehrer, oder hat er früher einen anderen Beruf ausgeübt?»
«Ich hab keine Ahnung», sagt Balki, «aber Ihre Fragen sind seltsam.»
«Das stimmt.»
«Kennen Sie jemanden, der vielleicht Simion ist?»
«Nein», sagt Ousep wahrheitsgemäß. Aber es gibt viele Simions auf dieser Welt. Sie haben Narben von alten Verletzungen, und sie mögen Labore. Ousep weiß, wo er suchen muss.
Er denkt daran, dass Unni einmal eine Clique Jungen beinahdazu gebracht hat, einen Straßenköter zu steinigen. Simion Clark erinnert ihn an diese Promenadenmischung, die wahrscheinlich noch am Leben ist.
Nachdem Simion verschwunden war, entstand um Unni ein Mythos. Manche Jungen sagten, er habe übersinnliche Kräfte, könne die Handlungen anderer Menschen kontrollieren, könne Gedanken lesen, habe magnetische Anziehungskraft, die spürbar sei, wenn man dicht neben ihm stehe. Etwa zu dieser Zeit kam er eines Morgens ins Klassenzimmer, setzte sich auf seinen Platz, wartete einen ruhigen Moment ab und sagte dann ganz leise, als spräche er mit sich selbst: «Um uns herum ist etwas im Gange.» Ousep hat dies von mehreren Jungen erzählt bekommen, und ihre Beschreibungen sind alle gleich.
Unni wirkte verwirrt. Noch nie hatte ihn jemand so gesehen. Seine Erklärungsversuche waren abstrakt und unzusammenhängend. Balki sagt: «Es war, als hätte er etwas gesehen. Er sagte, nichts sei, wie es uns erscheine. Alles, was wir über die Welt wissen, sei falsch und eine Lüge. Die Natur hüte ein dunkles Geheimnis, über das wir fassungslos wären, wenn wir es kennen würden, und sie hüte es auf unglaublich intelligente Weise. Das ergab keinen Sinn, doch als Unni redete, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, und ich blickte hinter mich, was seltsam war. Ich wollte sehen, ob mir irgendwie Gefahr droht. Wie kam ich darauf? Noch seltsamer ist, dass drei andere Jungen sich ebenfalls umdrehten, genau wie ich. Wir wussten nicht, warum wir das taten.»
Ein paar Wochen später stellte sich Unni auf den Lehrertisch und erzählte Geschichten. «Hat Ihnen jemand von diesen Geschichten erzählt?», fragt Balki.
«Ja. Aber manche sagen auch, nichts dergleichen habe je stattgefunden.»
Balki lacht. Er beugt sich vor und flüstert provozierend: «Und haben Ihnen die, die das Ganze nicht leugnen, auch erzählt, wovon die Geschichten handelten?»
«Sie haben gesagt, sie könnten sich nicht mehr erinnern.»
«Das habe ich mir gedacht.»
Balki ließ die Luft in seinen Lungen zischend entweichen. «Sie haben so viele Jungen aus unserer Klasse getroffen, Sie sind als Vater eines toten Klassenkameraden bei ihnen gewesen, und schließlich handelt es sich nicht um jemanden x-beliebigen, sondern um Unni Chacko. Und trotzdem halten sie Informationen zurück, weil sie Angst haben, sie haben Angst vor allem, was sie waren und sind. Wie feige, wie erbärmlich die Menschen doch sind.»
Ousep wird sich bewusst, warum er in Anwesenheit dieses Jungen, der die Welt hinreichend verachtet, Hoffnung geschöpft hat. Nur der Misanthrop sieht klar. Indem er sich von der Menge fernhält, sieht er vieles und bekommt oft vor Augen geführt, dass die Menschen nicht so klug sind, wie alle Hunde glauben. Immer wieder will er das sehen. Im Nebel der Zweideutigkeiten und Rätsel sucht er verzweifelt nach der Wahrheit, weil die Wahrheit die Menschen in keinem sehr guten Licht zeigt. In dieser Hinsicht ähneln sich Balki und Unni. Auch Unni war eine Ausnahme, und er war stark, deshalb musste er nirgends dazugehören. Auch Unni stand über allen menschlichen Bindungen, weil er auf diese Weise einen guten Überblick hatte und alles beobachten konnte. Und Balki will nicht zugeben, dass ein liebenswerter Feind des Gewöhnlichen letztlich von der Welt besiegt wurde. Denn bis das Gegenteil bewiesen ist, gilt Unnis Tod als Niederlage. Balki wird alles tun, um Ousep näher an die Wahrheit heranzuführen.
Der Junge sagt: «Wichtiger als Unnis Geschichten ist, was sich an den Tagen davor abspielte.» Nach dem, was Unni Simion angetanhatte, übte er erhebliche Macht über die Klasse aus. Wenn er sprach, hörte man ihm zu, wenn er eine Frage stellte, gab man ihm Antwort. Und irgendwie brachte er viele Jungen dazu, nach und nach über ihre sexuellen Erfahrungen und Fantasien zu sprechen. «Damals hatten wir mehr Fantasien als
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