Das verbotene Glück der anderen
er hat das Kleid von meiner Schwester an. Ich muss es ihr heute zurückbringen.» Sie laufen festen Schrittes zum Schultor, vor dem eine Autorikscha wartet.Der Fahrer wirkt verärgert. «Sie können mich nicht so lange warten lassen», sagt er, «es ist nicht Ihr Wagen.»
Während der Fahrt schweigen sie. Thoma lässt zu, dass sich eine düstere Stimmung in ihm ausbreitet. Er sieht seinen Vater am Morgen vor sich, einen klugen, eleganten Mann. Thoma ist stolz, dass sein Vater kein normaler Mensch auf einer alten Vespa ist. Er ist kein Bankbeamter, der sein Mittagessen in einem Henkelmann zur Arbeit mitnimmt, er ist nicht irgendjemand. Sein Vater ist Journalist. Wenn in diesem Land etwas Wichtiges geschah, war Ousep Chacko dabei und machte sich Notizen. Einmal war er ganz kurz im Fernsehen und sprach über einen Politiker, dessen Namen Thoma nicht mehr weiß. Alle sahen ihn und sagten hinterher: «Thoma, wir haben deinen Vater im Fernsehen gesehen.»
«Ist er tot?», fragt er seine Mutter.
«Das sagen sie mir nicht», antwortet sie.
«Er ist tot, stimmt’s?»
«Ich weiß es nicht, Thoma.»
Sein Vater hatte ein kompliziertes Verhältnis zu ihrem Mustang-Fernseher. Er hatte mehrmals versucht, ihn zu verpfänden. An manchen Tagen blieb er, wenn er morgens zur Arbeit ging, vor dem Fernseher stehen, starrte ihn lange an und klügelte dabei einen Plan aus. Dann hob er ihn hoch und trug ihn ganz vorsichtig zur Tür, so, als sei das Gerät ein Kind, das hingefallen war und ins Krankenhaus gebracht werden musste. Doch jedes Mal stellte er den Fernseher zurück auf den Sockel und tätschelte lächelnd Thomas Gesicht. Eines Tages brachte sein Vater einen muskulösen Mann mit, der die Arme fest um das Fernsehgerät legte und es mitnahm. Ousep wollte den Gangster aufhalten, blieb dann aber in der Tür stehen und sah Thoma an. «Wir geben ihn nur zur Reparatur, Thoma», sagte er. Der Fernseher kam nie zurück. Doch zumindest hatte sein Vater genügend Herz, umihm eine Lüge aufzutischen. Es ist die schönste Erinnerung, die er an seinen Vater hat. Wer kann bestreiten, dass es ein Augenblick der Liebe war?
Meistens wollte sein Vater in Ruhe gelassen werden. Manche Väter sind so. Doch Thoma weiß, dass sein Vater manchmal gerne mitgemacht hätte, wenn Unni und seine Mutter ihre albernen Einfälle hatten. Heute tut es Thoma leid, dass sein Vater nie am Familienleben teilnehmen durfte. Unni und seine Mutter wussten, wie sie ihn am besten bestrafen konnten.
Thoma erinnert sich an einen Sonntagnachmittag, der lange her war. Er war gerade von seinem Mittagsschlaf aufgewacht und fing an, mit Unni zu plaudern, der an einem Comic arbeitete. Unni sagte nichts, was nicht weiter ungewöhnlich war. Wenn er arbeitete, ließ er sich nicht ablenken. Doch Thoma ärgerte sich, dass er nicht beachtet wurde, und sagte: «Hörst du mich eigentlich?» Unni drehte sich nicht zu ihm um. Thoma versuchte, ihn abzulenken, und stupste ihn sogar ein paarmal, aber Unni hatte weder Augen noch Ohren für seinen Bruder. Thoma glaubte schon halb, er sei unsichtbar geworden. Um seinen Verdacht zu erhärten, rannte er zu seiner Mutter, die ihn ebenfalls nicht wahrnahm. Doch er merkte, dass sie ein Lachen unterdrückte. Nahmen sie ihn auf die Schippe? Um seine Unsichtbarkeit zu testen, blieb ihm jetzt nur noch sein Vater. Er stellte sich in den Türrahmen seines Zimmers, nahm allen Mut zusammen und sang ein Lied, doch Ousep konnte ihn nicht hören. Thoma ging ganz langsam ins Zimmer, bis er schließlich vor seinem Vater stand, doch Ousep sah durch ihn hindurch. Thoma hielt die Hand vor den offenen Mund, rannte aus dem Zimmer und schrie: «Ich bin weg, ich bin weg.» Unni hatte von der Diele aus alles mit angesehen. Er umarmte Thoma und sagte zu ihm, es sei nur ein Jux gewesen. Thoma war so erleichtert, dass er mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen wie ein Irrer lachte, wasseine Mutter so zum Lachen brachte, dass sie sich den Bauch hielt. Ousep kam aus seinem Zimmer, weil er mitlachen und einbezogen werden wollte; immerhin hatte ihn der ganze Wirbel im Haus darauf gebracht, was gespielt wurde, und er hatte mitgespielt. Doch als er erschien, zogen sie sich gemeinsam zurück und lachten allein weiter. Das tut Thoma heute noch leid.
Es ist eine lange, langsame Autorikschafahrt. Thoma blickt in das grelle Tageslicht hinaus, er betrachtet ein leuchtendes Flugzeug am Himmel, die Fahrzeuge, die alle irgendwohin unterwegs sind, die Männer, die an den
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