Das verbotene Glück der anderen
gehen und morgen früh wiederkommen. Vor morgen früh wacht er nicht auf.»
Weitere Krankenschwestern kommen ins Zimmer, allesamt ausgewachsene Frauen in weißen Kitteln. Wie Thoma und sein Vater wirken auch sie wie Statisten in einem schlechten Theaterstück.Ein dicker, Pfeife rauchender Arzt kommt herein. Er mustert Mariamma und kommt zu dem Ergebnis, dass sie nicht wichtig ist. Er murmelt, ihr Mann sei beinah gestorben, und geht aus dem Zimmer. Auch die Krankenschwestern gehen und lassen Thoma und seine Mutter allein. Voller Unbehagen stehen die beiden da und betrachten die Zimmerdecke und die Wände, als seien sie im Haus eines reichen Fremden.
An der Wand hängt Ouseps Hose. Mariamma holt seine Brieftasche und ein Bündel säuberlich gefalteter Papierbögen heraus. Sie ordnet die Bögen und sucht sich einen Stuhl. Doch etwas an dem, was sie da in der Hand hält, lässt sie erstarren. Sie setzt sich nicht hin. Das Bündel sieht aus wie ein Comic von Unni, den Thoma jedoch noch nie gesehen hat. Seine Mutter wirkt verstört, während sie die Seiten umblättert. Als sie zu dem Bild eines Mannes kommt, der ein Daumen-hoch-Zeichen macht, lässt sie den Comic schockiert fallen, oder vielleicht fallen die Blätter auch ganz von allein herunter. Sie lässt oft Sachen fallen. Sie hebt den Comic auf und betrachtet den Mann aufmerksam. Als sie zur letzten Seite kommt, sieht Thoma zu seinem Erstaunen ein riesiges Bild seiner Mutter, die voll in Fahrt ist.
«Was ist das?», fragt er.
«Ich weiß nicht», sagt sie.
Sie holt alles Geld aus der Brieftasche, lässt den Comic jedoch da. Sie fahren mit dem Bus nach Hause. Erst als sie durch das Eingangstor von Wohnblock A gehen und alle dort spielenden Jungen anfangen zu lachen, fällt Thoma wieder ein, dass er ein Kleid trägt. Er sieht zu den Balkonen hinauf, zu den Männern und Frauen, die dort stehen. Sie lachen nicht. Sie haben wahrscheinlich von dem Herzinfarkt gehört und fragen sich, was los ist. Das erinnert Thoma daran, wie er und seine Eltern einst aus der Kirche zurückgekommen waren. Es war ein Tag wie dieser.Sie waren als Familie aufgebrochen, und als sie wiederkamen, fehlte einer.
Er blickt noch einmal nach oben, weil er wissen will, ob Mythili ihn in dieser Aufmachung gesehen hat, doch nur ihre Mutter steht auf dem Balkon. Als sie die Treppe hinaufgehen, gehen die Wohnungstüren auf, und Frauen treten in den Flur. Sie fragen Mariamma, was passiert sei, und halten ihre Hand und sagen, sie müsse tapfer sein. Später kommen sie zu ihm nach Hause, mit warmem Essen und Obst und Kaffee. Sogar Mrs Balasubramanium bringt einen Teller vorbei, auf dem allerlei liegt. Seine Mutter stellt alles auf den Tisch, und als es irgendwann abends wieder an der Tür klingelt, sagt sie: «Dieser Mann sollte jeden Tag einen Herzinfarkt haben.» Und beide lachen herzlich.
5
Philipose, Philipose
Ousep träumt nicht, da ist er ganz sicher, auch wenn er schläft und eine Welt erlebt, in der Unni nicht tot ist. Er ist nicht tot, weil er noch gar nicht geboren ist. Die Welt vor Unni Chacko ist laut Unni Chacko «der schlüssigste Beweis für die lächerliche Hypothese, dass das Leben ganz normal weitergeht, wenn ich tot bin».
Mariamma ist jung, schön und seit drei Monaten verheiratet. Sie verlebt diese Tage in leicht übertriebener Fröhlichkeit, wie eine dilettantische Liebhaberin. Wenn Ousep einen Witz macht, hält sie die Hand vor den Mund und rennt weg, sie serviert ihm das Essen mit überschwänglicher Gebärde und reinigt sein Ohr übervorsichtig, als repariere sie eine Armbanduhr. Sie wohnt mit ihm in einem großen Haus, das nach roter Erde und Bananen riecht, inmitten von Palmen, Bananenstauden und Jackfruchtbäumen. Das Haus hat das Nachrichtenmagazin
Weekly
in Kottayam ihrem Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Er ist einer der intelligentesten Journalisten in Kerala und der jüngste Kolumnist, den es je gab. Politiker und Bischöfe kommen ihn besuchen, Priester und sogar protestantische Pfarrer zitieren ihn in ihren Sonntagspredigten. Verleger, die seine höchst populäre Kurzprosa in den Sonntagsbeilagen gelesen haben, bitten ihn, einen Roman zu schreiben.
Mariamma genießt ihr neues Leben, sie singt Liebeslieder vor sich hin, gibt den Kälbern, die in anderen Häusern geboren werden,Namen, liest, was sie in die Finger bekommt. Sie übersetzt
Hundert Jahre Einsamkeit
ins Malayalam. Eigentlich nur kleine Passagen, aus Liebe zum berühmten Márquez. Ihre Übersetzung ist
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