Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
Kleine Jungen, die man für Maristaras Partner aus Seth herausschmuggelte. Und so ging das nun schon seit mehreren hundert Jahren.
Edward saß am Ruder, achtete jedoch kaum darauf, wohin sie fuhren. Seine braunen Augen lagen auf Melisande, die in ihre Decke gewickelt auf das Wasser starrte, das an ihr vorbeiströmte. Meist erfüllte sie seine Gedanken, doch gelegentlich drang auch Ermintrude in sie ein. Dann wendete er die Augen von Melisande ab und musterte stur das baumbestandene Ufer.
Da Melisande nichts zu tun hatte, konnte sie nur nachdenken. Ihr Leben hatte sich so unvermittelt und drastisch geändert, dass sie sich selbst so verwirrt betrachtete wie einst ein begonnenes Mosaik. Damals hatte sie versucht, in den vielen scharfkantigen Einzelteilen ein Muster zu erkennen, ein Bild. Aber gerade wenn sie das Gefühl hatte, allmählich zu begreifen, schob sie die Teile wieder von sich fort und brachte sie erneut durcheinander.
Ihre Gedanken wanderten zu Edward. Sie hatte ihn verkannt. Er war anders als andere Männer, die sie kannte. Wann immer er sie nicht betrachtete, sah sie zu ihm hin, nahm seine würdevolle Haltung in sich auf und fand einen gewissen Trost darin, sich seine Gesichtszüge einzuprägen oder seine starken Hände am Ruder zu beobachten.
Dann kam der kurze Moment, als er plötzlich zu ihr hinsah und sie die Augen nicht abwenden konnte. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke, bis sie rasch zu den Weiden schaute. Edward entschied, dass sie ruhig ein wenig plaudern könnten.
»Drakonas, gestern Abend im Lager sagtet Ihr, sie würden uns nicht weiter verfolgen.«
»Ich hatte doch Recht damit, oder?« Drakonas stützte sich auf die Ruder.
»Ja, aber woher wusstet Ihr das?«
»Wir nehmen denselben Weg wie die Boote mit den Schmugglern«, klärte Drakonas ihn auf. »Wenn die Soldatinnen uns nachgekommen wären, wären sie vielleicht auf die Kinder gestoßen. Sie hätten sie erkannt und Fragen gestellt. Das ist für den Drachen zu riskant.«
»Was für Kinder?«, fragte Melisande. »Wovon redet Ihr?«
Im Stillen versetzte Edward sich einen Tritt. Dieses Thema hatte er nicht anschneiden wollen. Er wollte Melisande nicht noch mehr Kummer bereiten. Mit einem sprechenden Blick auf Drakonas wollte er diesen zu einer ausweichenden Antwort bewegen. Er sollte das Thema wechseln. Aber Drakonas reagierte natürlich nicht darauf.
»Die Jungen, die im Kloster zur Welt kommen«, antwortete Drakonas. »Die Kinder, welche die Meisterin jeden Monat fortschickt. Was wird aus ihnen?«
»Sie kommen zu guten Menschen im Königreich, Leuten, die keine eigenen Kinder bekommen können oder …«
Melisande verstummte. Befremdet und erschrocken starrte sie ihn an.
»Woher wisst Ihr das?«, fuhr sie auf. »Wie könnt Ihr von den Kindern wissen?«
»Als wir die Höhle betraten, sind wir auf alte Frauen gestoßen, alle in Schwarz, die Kinder aus der Höhle trugen. Wir haben mit angehört, was der Drache dazu sagte. Er verkauft diese Kinder in die Sklaverei.«
»Das glaube ich nicht«, wehrte Melisande ab. Sie umklammerte die Planken so fest, dass ihre Knöchel kalkweiß hervortraten. »Die Kinder bekommen ein gutes Zuhause.«
»Habt Ihr je eines dieser Kinder wiedergetroffen?«, erkundigte sich Drakonas. »Ist eines von ihnen jemals zurückgekehrt, um seine wahre Mutter zu besuchen?«
»Das ist ihnen nicht gestattet.«
Lächelnd zog Drakonas die Brauen hoch. »Und das kam Euch nicht seltsam vor? Habt Ihr Euch nie gefragt, was aus ihnen wird?«
Diese Frage hatte sich Melisande schon oft gestellt. Sie hätte gern mehr über die Kinder erfahren, aber auch mehr über ihren eigenen Vater. Das hatte sie nie jemandem anvertraut, nicht einmal Bellona. Jeden Monat zur Paarungsnacht hatte sie die Reihen der Männer gemustert und sich gefragt, ob er wohl darunter war.
Was war er für ein Mensch? War er ein edler Fürst oder ein einfacher Bauer? Ein Musikant vielleicht? Ließ er seine Hände sanft über die Saiten einer Harfe gleiten, oder führten sie einen Schmiedehammer?
»Die Kinder sind ein Gottesgeschenk«, beharrte Melisande auf den Worten der Meisterin. »Ein heiliges Geschenk. Diejenigen, die sie aufnehmen, werden extra für diese segensreiche Aufgabe ausgewählt. Wenn sie darauf eingehen, geloben sie, weder dem Kind noch anderen jemals zu verraten, dass es nicht ihr eigener Sohn ist. Sonst würden sie den Zorn der Meisterin auf sich ziehen.« Ihre Stimme wurde leiser. Sie erinnerte sich an den Zorn der
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