Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
schwierige Zeit. Wenn die Kinder in der Nacht weggenommen werden, ohne dass sie es zuvor erfahren, fällt ihnen die Trennung nicht so schwer.«
»Aber wie läuft das ab? Wenn ich dafür verantwortlich sein soll, dann …«
»Morgen«, versprach die Meisterin und schloss die Augen. »Ich bin sehr müde, Melisande. Bitte geh jetzt.«
Melisande seufzte in sich hinein. Sie musste noch so viel lernen und wurde immer auf morgen vertröstet.
»Darf ich dir noch etwas bringen, Meisterin? Ein Glas Wein? Etwas zu essen? Du isst seit Tagen nicht.«
»Ich habe keinen Hunger mehr. Auf gar nichts. Nicht einmal auf das Leben. Stell mir ein Glas Wein ans Bett. Mehr möchte ich nicht.«
»Das tue ich, und dann schicke ich dir eine Schwester her.«
»Nein!«, erregte sich die Meisterin. »Die anderen bringen mich mit ihrem Geheule und Getue nur zur Weißglut. Du bist die Einzige, die ich ertragen kann.«
»Dann komme ich zurück, um zu sehen, ob du noch irgendetwas brauchst.«
»Das wirst du nicht tun!« Der scharfe Ton der Meisterin überraschte Melisande. »Entschuldige, Tochter. Ich wollte dich nicht so anfauchen, ausgerechnet dich, die mir so ergeben ist. Aber du hast mehrere Nächte nicht geschlafen. Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, dass du stündlich hereingeschlüpft kommst? Heute Nacht werde ich schlafen, und das solltest du auch tun.«
»Ja, Meisterin. Wenn dies dein Wunsch ist.«
Die Stimme der Meisterin wurde leiser. »Ich bin so furchtbar müde. Niemand soll mich stören. Komm morgen früh wieder.«
Melisande bückte sich, murmelte ein Gebet, das aus tiefstem Herzen kam, und küsste die welke Hand ihrer Herrin. Nachdem sie die Tränen wieder beherrschen konnte, wusch sie sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Es wurde Zeit für die Zeremonie.
Als Melisande ihre Begrüßungsansprache hielt, wiederholte sie Worte, die sie ihr ganzes Leben lang jeden Monat gehört hatte und die für alle, die sie vernahmen, voller Bedeutung waren. Das hoffte sie jedenfalls. Für sie selbst waren die Worte in dieser Nacht bedeutungslos. Sie hätte eine fremde Sprache benutzen können. Es gab so viel zu tun, so viel zu bedenken, so viel Verantwortung, die sie übernehmen sollte, und sie hatte keinen Moment, irgendetwas klar zu Ende zu denken.
Als sie in den Hof trat und den Platz der Meisterin auf dem Podest am Nordende einnahm, reagierten die Schwestern erschüttert. Wo war ihre Meisterin? Sie fassten einander bei den Händen. Einige schnappten hörbar nach Luft, eine brach tatsächlich in Tränen aus. Die Priesterinnen, die sich heute mit den Männern verbinden sollten, begannen zu welken wie Schnittblumen. Die Männer hatten keine Ahnung, was vor sich ging, doch sie spürten die Spannung. Unruhig warfen sie einander verstohlene Blicke zu.
Melisande musste die Lage in den Griff bekommen, damit sie sich nicht verselbstständigte. Wenigstens Bellona und ihre Kriegerinnen wahrten die Disziplin und blieben ungerührt stehen. Als Bellona herüberkam, um sich wie üblich neben das Podest zu stellen, wärmte ihr ermutigendes Lächeln die Priesterin wie gewürzter Wein.
»Die Meisterin bittet um Nachsicht«, begann Melisande mit weit tragender Stimme. »Es tut ihr Leid, dass sie nicht wie gewohnt heute Nacht vor euch treten kann, doch sie ist noch erschöpft von dem Kampf gegen den Drachen. Ihr Männer aus Seth, ich heiße euch in ihrem Namen willkommen.«
Dann fuhr sie mit der traditionellen Rede fort, und obwohl sie sich hinterher an kein Wort daraus erinnerte, erzielte sie die gewünschte Wirkung. Ihre Erklärung über die Meisterin, die sie mit kühler, lauter Stimme vorgetragen hatte, war Balsam für die Ängste der Schwestern. Als sie danach die Heldentaten der Männer beschrieb, fassten diese neuen Mut, und als sie ihrer Bewunderung für die Frauen Worte verlieh, die bald Mütter werden würden, reagierten auch diese voller Stolz.
Nach dem Ende ihrer Rede überließ Melisande dankbar Bellona den restlichen Ablauf. Die Schwestern begannen zu beten, während die Frauen sich bereitwillig in die Paarungszimmer begaben, wo sie etwas nervös ihrer erwählten Gefährten harrten. Einige hatten bereits Kinder zur Welt gebracht und wussten, was sie zu erwarten hatten. Je nach den Erfahrungen vom letzten Mal sahen sie dem Liebesakt voller Sehnsucht oder voller Furcht entgegen. Andere waren noch Jungfrauen, die noch keine rechte Vorstellung vom ersten Mal hatten.
Bellonas Frauen eskortierten die jungen Männer und sorgten dafür, dass
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