Das verbotene Land 2 - Drachensohn
durcheinander war, um zu sprechen. Einem Fremden brauchte er nicht zu gehorchen, auch wenn dieser ihm gerade das Leben gerettet hatte.
Der Mann brachte Nem keineswegs in die Abtei oder auch nur in deren Nähe. Sobald sie außer Sichtweite waren, verließ er die Straße zur Stadt und hielt über das offene Feld auf den Wald zu. Ein paar Leute starrten herüber, doch weil sie nichts weiter sahen als einen Mann, der ein blutiges Kind trug, zogen sie ihrer Wege.
Bald fiel der kühle, vertraute Schatten des Waldes über Nem, der erleichtert aufatmete. Der Mann blieb stehen und sah sich um, ob sie wirklich allein waren. Als er nichts sah oder hörte, legte er Nem vorsichtig auf trockenem Laub ab. Dann hielt er seine Hand über Nems Menschenbein.
Ein Sonnenstrahl fiel durch die grünen Blätter des Walnussbaums auf glitzernde, blaue Schuppen. Der Mann hob Nems Bein an, untersuchte die Schuppen genau und nickte dann zufrieden.
»Der Hund hat ein paar Schuppen gelockert, aber es ist nichts Ernstes. Du hast Glück gehabt, dass ich in der Nähe war«, fügte der Mann in ernstem Ton hinzu. »Sag Bellona, dass sie besser auf dich aufpassen muss.«
Nem sprang auf und rannte davon. Der Mann rief ihm etwas nach, doch der Junge hörte nicht auf ihn. Er rannte, so schnell er nur konnte, ließ seine Tierbeine ausgreifen, hetzte über das unebene Gelände und federte mit seinen Krallenfüßen hoch. Der Mann setzte ihm nach, quer durch das Unterholz. Aber Nem war klein und wendig. Er duckte sich zwischen den Stämmen hindurch, rutschte unter Gestrüpp hinweg, zwängte sich an umgestürzten Bäumen vorbei und platschte durch Bäche. Er rannte, bis seine Beine so schmerzten, dass er Halt machen musste. Keuchend lauschte er auf seinen Verfolger. Er hörte weder das Rufen noch die lauten Schritte des Mannes. Offenbar hatte er ihn abgeschüttelt.
Nem hatte sich zwar im Wald verirrt, doch das machte ihm keine Sorge. Im Wald kannte er sich aus. In der Ferne vernahm er die Rufe der Falkner, schrilles Gelächter, grölendes Geschrei – dort war der Markt. Wenn er diesen Geräuschen folgte, würde er aus dem Wald hinausfinden. Doch das hatte er vorläufig gewiss nicht vor. Er wollte hier ausharren, wo es still war, fernab der gaffenden Augen und offenen Mäuler, fernab auch von den Menschenstimmen. Bellona würde ihn strafen, doch das war ihm im Moment egal.
Er starrte das Loch in seinen Hosen an, wo die blauen Schuppen im Sonnenlicht funkelten. Als er die Augen schloss, sah er wieder, was er beim Stierkampf erblickt hatte: aufgerissenes, rosafarbenes Fleisch und frisches, rotes Blut. Einen kurzen, irrationalen Moment hindurch hatte Nem an ein Wunder geglaubt und wahres Glück gekannt.
Er schlug die Augen wieder auf. Die Schuppen waren wieder da. Es gab kein Wunder. Die Freude war verflogen, und die Verzweiflung, die nun folgte, war schlimmer, weil er das Glück erlebt hatte.
Nem rollte sich zusammen, bis die Tierbeine vor seiner Menschenbrust lagen, und lauschte ganz still der heulenden Stille.
5
Nachdem er sich selbst genug gerügt hatte, blieb Drakonas am Waldrand stehen und fragte sich, was er jetzt unternehmen sollte. Dem Drachenkind nachzujagen, hatte wenig Sinn. Nems scharfe Sinne konnten jede Bewegung von Drakonas wahrnehmen. Der Junge würde einfach Versteck spielen, bis Drakonas aufgab. Insgeheim nahm er zurück, was er über Bellona gesagt hatte. Sie machte ihre Sache gut, denn sie hatte dem Jungen beigebracht, auf sich selbst aufzupassen, jedenfalls unter normalen Umständen.
Doch die Umstände waren nicht mehr normal.
Während der Sitzung des Parlaments hatte Drakonas entschieden, den Sohn des Drachen zu suchen. Er musste ihn und Bellona vor dem Drachenvater warnen, der nach ihnen forschte, damit sie in Deckung gehen konnten.
Am Tag von Nems Geburt hatte Drakonas das Baby Bellona anvertraut und ihr eingeschärft, es zu verstecken, sowohl vor den Menschen als auch vor den Drachen. Diese Warnung hatte Bellona beherzigt.
Drakonas konnte seine menschliche Gestalt verändern. Auf diese Weise hatte er Bellona und das Kind heimlich im Blick behalten, bis er sich vergewissert hatte, dass Bellona vielleicht keine ideale Mutter, aber eine gute Beschützerin war. Aus der Befürchtung heraus, sie durch seine Nähe in Gefahr zu bringen, hatte er Mutter und Kind dann bewusst nicht mehr aufgesucht und sie daher seit fünf Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Stattdessen hatte Drakonas jene beobachtet, die ebenfalls nach dem Sohn
Weitere Kostenlose Bücher