Das verbotene Land 2 - Drachensohn
Pfeile ungeduldig zur Seite schob, aufstand und nach draußen ging. Sie sah ihm nach, sah seinen federnden Gang mit den Augen eines Fremden, so wie man ihn auf dem Weg zum Markt sehen würde.
Nem wurde älter, und sein Körper veränderte sich. Wenn seine Beine verhüllt waren, unterschied er sich kaum von einem normalen jungen Burschen. Er neigte dazu, von seinen langen Krallenzehen abzufedern, anstatt erst die Ferse anzusetzen und den Fuß abzurollen. Stundenlang hatte er geübt, wie normale Menschen zu gehen. Seine Beine waren noch immer Tierbeine, und sein Gang fiel auf – als würde er mit leicht gebeugten Knien laufen –, doch das konnte eher als Eigenart durchgehen, nicht als Missbildung.
Mit seinen sechzehn Jahren war Nem ein ansehnlicher junger Mann – jedenfalls von der Taille aufwärts. Die harte, körperliche Arbeit und das tägliche Üben mit Bogen, Schwert und Speer hatten seinen Oberkörper modelliert. Die blonden Haare hatten mittlerweile einen rotgoldenen Ton angenommen. Er trug sie gern kurz. Seine dichten, braunen Augenbrauen wirkten wie ein Balken über seinem Gesicht – in Bellonas Augen wie ein schwerer Holzbalken vor einer Tür.
Ein Bart wuchs ihm nicht, auch keine Haare auf der Brust oder im Lendenbereich. Mittlerweile begriff Bellona, dass sie wohl nie wachsen würden. Sie wusste, dass ihm dieser Mangel bewusst war und ihn schmerzte, denn sie sah ihn häufig am stillen Wasser des kalten Teiches sitzen, wo er über sein kräftiges, kantiges Kinn strich, das so glatt und zart war wie das einer Jungfrau.
Seine Augen waren so blau wie die seiner Mutter, wirkten durch die dicken Brauen jedoch düsterer. Statt des Feuers, das aus ihren Augen gesprüht hatte, standen in seinen Augen Schatten.
Bellona sah ihm nach, bis er im dämmrigen Wald verschwunden war.
Nach jenem Fiasko mit sechs Jahren hatte er sich stets geweigert, mit ihr auf den Markt zu gehen. Lieber blieb er allein im Wald zurück. Bellona hatte die Gefahren, denen ein Kind im Wald ausgesetzt war, mit der Gefahr, die ihm auf dem Markt drohte, verglichen, und seinen Wunsch respektiert. Sie verstand gut, weshalb er nicht unter Menschen wollte. Ebenso wie sie verstand, warum er jetzt in die Welt zurückkehren würde. Seit Jahren hatte sie zugesehen, wie er immer rastloser wurde, mit sich selber und mit seinen Ängsten rang. Sie verstand das Bedürfnis ebenso wie die Angst, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte. Was Nem anging, fühlte sie sich hilflos, wusste nicht, wie sie mit ihm reden, ihm beistehen sollte. So ging es ihr schon zehn Jahre.
Bellona hegte für Nem keine Muttergefühle, aber sie hatte immer an die Verbindung zwischen ihnen geglaubt – das Band über Melisande, die Mutter, die er nie gekannt hatte. Die Kriegerin hatte es für selbstverständlich gehalten, dass Nem seine Mutter liebte. Diese Vorstellung hatte sie aufgeben müssen, als sie damals von jener katastrophalen Reise nach Schönfeld zurückgekehrt waren.
Als Bellona erwachte, hatte sie sich nur vage an den Jahrmarkt erinnert. Von dem Angriff wusste sie gar nichts mehr. Nem hatte ihr wenig erzählt, nur dass sie von Räubern überfallen worden waren.
Kurz nach ihrer Rückkehr hatte sie Nem an ihrem Bett stehen sehen, wo er sie betrachtete. Sie sah in seine blauen Augen hoch, in denen sich gewöhnlich ihr eigenes Bild spiegelte. Diesmal aber entdeckte sie nicht sich selbst.
Sie sah Nem.
Einmal war Bellona in den Bergen von Seth in einen Schneesturm geraten. Auf der Flucht vor dem Schneegestöber und der eisigen Kälte hatte sie in einer Höhle Zuflucht gesucht, die jedoch bereits bewohnt war. Da sie kein Licht machen konnte, hatte sie nicht sehen können, welches wilde Tier in der Dunkelheit lauerte. Sie hatte nur gewusst, dass es da war, hatte die Wut über ihr Eindringen und die lautlose Drohung gespürt. So hatte sie die Höhle verlassen, um lieber im Schnee zu erfrieren, als von wilden Klauen zerrissen zu werden.
Nems Augen waren die Höhle. In ihnen lag Finsternis.
»Was willst du, Kind?«, hatte Bellona erschrocken gefragt.
»Bin ich der Fluch meiner Mutter?«, hatte Nem mit zitternder Stimme gefragt.
Entgeistert hatte Bellona ihn angestarrt. Ihr fiel seine Frage im Wald wieder ein: Warum bin ich so? Wer hat mich so gemacht? Damals hatte er die Antwort nicht hören wollen, aber er hatte darüber nachgedacht. Und er war zu dem Ergebnis gekommen, dass er das Ergebnis einer widernatürlichen Leidenschaft war. Der Fluch seiner Mutter.
Bellona
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