Das verbotene Land 2 - Drachensohn
hatte sich auf Augenhöhe vor Nem hingekniet. Wie eine Paarung verlief, brauchte sie ihm nicht zu erklären. Er wusste, wie junge Eichhörnchen, Kaninchen und Füchse entstanden. Er hatte gesehen, wie die Hirsche zusammenkamen, wie wilde Katzen sich trafen und wie Rotkehlchen flatternd übereinander herfielen, dass die Federn nur so stoben. Weil er wusste, was er fragte, begriff Bellona seinen Zorn. So erzählte sie ihm mit offenen, harten Worten von der Vergewaltigung, ohne ihm etwas zu ersparen. Auch wie sie seine Mutter gefunden hatte, nachdem der Drache mit ihr fertig war – verletzt, blutend, voller Entsetzen und Scham.
»Melisande hatte keinen Grund, sich zu schämen«, sagte Bellona rau. »Was geschehen ist, war nicht ihre Schuld. Du bist nicht der Fluch deiner Mutter.«
Die Worte »Aber der deines Vaters« blieben unausgesprochen, doch Nem hatte sie vernommen.
Danach war ihr Leben in gewohnten Bahnen weitergelaufen. Nur eines hatte sich geändert. Als Bellona im Jahr darauf die gewohnte Geburtstagsfeier für Nem durchführen wollte, rief sie ihn herbei und holte schon Luft, um Melisande zu beschwören.
Plötzlich flammte in der Höhle von Nems Augen Licht auf, wie von einem Zündholz. Dort sah Bellona seine wachsame, aufgestörte, drohende Seele kauern.
Mit einem Seufzer entrang sich ihr Melisandes Name, stieg in das friedliche Vogelgezwitscher des Frühlingstages und war verloren. Danach feierten sie Nems Geburtstag nie wieder und erwähnten ihn auch nicht mehr.
Jetzt riss Bellona ihre Gedanken von Nem los, um zu der verhassten Näherei zurückzukehren. Sie ging mit der Nadel um wie mit einem Schwert. Mit grimmiger Entschlossenheit kämpfte sie darum, die vor ihr liegende Aufgabe fertig zu stellen.
Nem brauchte die neue Hose und ein neues Hemd, denn er würde sie auf den Markt begleiten.
Der Junge überließ Bellona der Hütte und ihrer Arbeit. Er floh in seine Höhle. Nachdem er alles gesagt hatte, scheute er vor der Reaktion zurück. Das Aussprechen seiner Entscheidung hatte dieser Form und Gestalt verliehen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn er sich in der Höhle versteckte, wie es ein Teil seines Inneren forderte, würde Bellona ihn für einen Feigling halten, und Feiglinge verachtete sie. Schlimmer noch – er würde sich selbst verachten. Ebenso wie jener andere, die Stimme, die ihn bedrängte, in die Welt hinauszuziehen und sie zu erobern.
Nem hatte der Stimme seines Vaters nie geantwortet. Er redete weder mit dem Drachen noch mit Drakonas, obwohl beide im Laufe der Jahre wiederholt versucht hatten, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Auch mit der dritten Stimme hatte er nicht gesprochen, jener fernen, selten vernommenen Stimme, die nicht mit ihm, sondern mit sich selbst zu sprechen schien. Diese Stimme mochte er, denn sie gehörte keinem Drachen. Er wusste nicht, wem sie gehörte, auch nicht, weshalb er sie hören konnte, aber er mochte sie. Die Stimme wollte nichts von ihm, und obwohl sie nicht mit ihm sprach, vermittelte sie ihm das Gefühl, nicht so allein zu sein. Er reagierte nie auf sie, auf keine von den Stimmen. Denn damit hätte er zugegeben, der Sohn des Drachen zu sein – und das hatte er nicht vor.
Seinen Drachenvater verabscheute er ebenso wie die Drachenhälfte seines Körpers. Am liebsten hätte er geglaubt, dass die kalten, trockenen, blauen Schuppen zu weichem, warmem Fleisch werden würden, wenn er es nur genug wollte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass dies nicht geschehen würde, aber er hatte das unklare Gefühl, dass er den Menschenanteil in sich schwächen würde, wenn er auf den Drachenanteil zuginge. Nem hatte beschlossen, ein Mensch zu sein, oder sich wenigstens dafür auszugeben, ganz gleich, welchen Preis er dafür zahlen musste.
Die Drachenmagie hatte er seit jenem Tag, an dem er den Mann getötet hatte, nicht mehr benutzt.
Diese Tat hatte Nem erschüttert. Es war so leicht gewesen. Und es hatte sich so gut angefühlt. So musste ein Drache sich fühlen, wenn er einen Menschen tötete.
So sperrte Nem die zauberhaften Bilder, die herrlichen Formen und Farben, die sein inneres Auge wahrnahm, in den finstersten Teil seiner Höhle, versenkte sie in einem tiefen Abgrund. Die Magie dort unten war noch am Leben. Manchmal sah er, wie die Bilder versuchten, sich nach oben zu tasten. Mitunter hörte er sie verführerisch flüstern so wie die Stimme seines Vaters. Er kehrte ihnen den Rücken zu und ignorierte sie geflissentlich. Stattdessen konzentrierte er sich
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