Das verbotene Land 2 - Drachensohn
Drakonas, der ihm erklärt hatte, wer und was er war.
Aber nicht weshalb er dies war.
»Ich will ihn auch endlich kennen lernen«, gab Nem zurück.
20
Es regnete schon drei Tage lang. Kein prasselnder, peitschender Regen, der die Bäche anschwellen und die Anwohner nervös nach dem Wasserstand des Flusses blicken ließ, sondern ein beständiger Landregen, wie ihn die Bauern liebten. Er fiel so sachte, dass der Boden sich damit voll saugen konnte.
Markus stand im Arbeitszimmer seines Vaters am Fenster und sah zu, wie die Regentropfen an den Bleiglasscheiben herunterliefen. Einer nach dem anderen landete spritzend am Fenster und rann am dicken Glas herunter, das alles verzerrte, was er erblickte. Auf diese Weise ließ der Regen ein ohnehin verwaschenes Bild weiter verschwimmen. Alles was Markus wirklich sah, waren die Farben. Das düstere Schiefergrau der Mauern und des Schlosshofes. Das nasse Blau der Umhänge der königlichen Wachen, die sich unter Vorsprüngen zusammendrängten oder kläglich in den Ecken standen, wo sie sich erfolglos bemühten, halbwegs trocken zu bleiben. Das dumpfe Grün der grasbewachsenen Hügel. Und über allem das faserige Grau der Wolken, die in unablässiger, quälender Monotonie über das Land zogen. Die Wolken verbargen sogar die Stadt Ramsgate-upon-the-Aston vor Markus' Augen, obwohl diese gar nicht weit entfernt lag.
Im Palast war es still. Nur der Regen war zu vernehmen, doch dessen Geräusch war so gleichmäßig, dass man es schon nicht mehr wahrnahm.
Markus stieß das Fenster auf, um die feuchte, graue Luft einzuatmen. Aus den Mäulern der Gargylen am Ende der Regenrinnen strömten kleine Wasserfälle, doch auch dieser Anblick konnte Markus nicht längere Zeit erheitern. Schließlich wandte er sich seufzend vom Fenster ab.
Den ganzen Morgen war er mit seinem Lehrer eingesperrt gewesen, hatte die Verben einer Sprache konjugiert, die niemand mehr sprach, weil die Menschen, die sie einst gesprochen hatten, längst gestorben waren – zweifellos an Langeweile. Der Lehrer war jetzt gegangen, doch die Verben wanderten noch immer stumpf wie der unablässige Regen durch Markus' Kopf. Irgendwie musste er ihren verstaubten Klang aus seinem Gehirn vertreiben und diesen trüben Tag verschönern.
Markus' Körper blieb am Fenster stehen, gleich neben dem Tisch, wo sich auf dem Astrolab seines Vaters Staub und Spinnen ansammelten. Sein Geist verließ das Zimmer und betrat einen Ort, der nur ihm bekannt war, einen kleinen, runden Raum ohne Fenster, in dem nur ein Kinderstühlchen stand.
Normalerweise war er hier allein. Nur einer hatte je eintreten dürfen – jemand, den er nie gesehen hatte. Es war ein Kind, von dem er nur die Hand und die Stimme kannte, doch selbst die Stimme hatte er selten vernommen. Alle anderen blieben ausgesperrt, denn Markus erinnerte sich noch lebhaft daran, wie Drakonas ihn vor dem Drachen gewarnt hatte, der irgendwo darauf lauerte, einzudringen und ihn zu packen. Manchmal hörte der junge Prinz es draußen schnüffeln und scharren wie von einem großen Tier.
Dann blieb er ganz still in der Mitte des Raumes sitzen, damit niemand merkte, dass er da war. Der Eindringling verschwand jedes Mal.
An das Turmzimmer, in das man ihn als Kind gesperrt hatte, konnte Markus sich nicht mehr erinnern. Er wusste ohnehin kaum noch etwas von seiner Kindheit, jedenfalls von der Zeit vor der Ankunft von Drakonas. Wenn er auf jene Zeit zurückblickte, war es, als blickte er durch das gewellte Glas auf das verregnete Land – verschwommene Farben und Bilder, als wäre ein nasser Schwamm über die Wirklichkeit gefahren. Der Flügel des Palastes, in dem dieser Raum lag, war während Markus' Abwesenheit neu gestaltet worden. Nach seiner Rückkehr wurde diese Zeit nie wieder erwähnt. Dennoch wunderte er sich, warum er diesen Teil des Palastes mitunter mit einem seltsamen Widerwillen betrat.
Der Raum, in den er sich innerlich zurückzog, um seine Magie zu wirken, war ein genaues Abbild jenes wahren Turmzimmers, doch das würde er nie erfahren.
In diesem Raum setzte Markus sich auf das Stühlchen, das merkwürdigerweise immer groß genug für ihn war. Dann verwob er die Farben in seinem Inneren, wie die Spinnen ihr Netz durch das Astrolab spannten. Der Regen ließ nach, der Himmel riss auf. Er lockte den Sonnenschein hervor, der die bleiernen Scheiben zum Glitzern brachte. Schon sah er die Stadt mit ihren Kirchturmspitzen, den Strohdächern und den bunten Bannern. Die durchnässten,
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