Das verbotene Land 2 - Drachensohn
über uns hinüber, um uns herum und dahinter in die Weite. Wenn er uns sieht, nimmt er noch so viel anderes wahr. Man fragt sich, ob man ihm etwas bedeutet, mehr als ein Staubkorn mit einem Eichelhütchen.
Ermintrude liebte dieses Kind, das nicht ihrem Schoß entsprungen war, von Herzen, obwohl dies das peinlich gehütete Geheimnis ihres Gatten war. Zu ihrer eigenen heimlichen Schande liebte sie ihn sogar mehr als ihre eigenen Söhne. Denn er brauchte sie. Die anderen Jungen waren normale, gesunde Burschen, die sich mit zwei Jahren von ihrer Hand gelöst hatten und ins Leben gestapft waren, ohne je einen Blick zurückzuwerfen. Markus war anders. An seiner Seite war sie durch die tiefste Hölle gewandert, und doch war ihr seine kleine Hand entglitten. Hilflos hatte sie zusehen müssen, wie er in einer Traumwelt verschwand, in die sie ihm nicht folgen konnte. Obwohl er sich an jene furchtbare Zeit nicht mehr erinnerte, wusste er doch um die Hand, die ihn während der langen Nacht seines Wahnsinns gehalten hatte. Sie standen einander sehr nahe, weil sie ein ganz besonderes Geheimnis teilten.
Edwards Liebe zu Markus entsprang Pflichtgefühl und Selbstvorwürfen. Markus erinnerte den König ständig an sein Versagen, und obwohl der König diese Strafe aufrichtig annahm, nahm er bei jedem Blick in Markus' Augen einen Vorwurf wahr.
»Mein Sohn«, mahnte Ermintrude. Ihre Hände griffen fester zu, als ob er ihr wieder entgleiten würde. »Geh nicht wieder in deinen kleinen Raum. Versprich es mir! Immer sagst du, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird, aber dann geschieht es doch. Letzten Monat war es ein Stallbursche, den du mit der Meerjungfrau im Wassertrog halb zu Tode erschreckt hast, davor die Wache. Schließ die Tür zu deinem Raum ab, mein Sohn. Wirf den Schlüssel fort.«
Mit einem Seufzer brach sie ab.
Markus hatte ihre Hand nicht losgelassen. Noch immer sah er sie mit dem gleichen liebevollen Lächeln an, doch innerlich hatte er ihr den Rücken zugekehrt und war gegangen – vielleicht an seinen Zufluchtsort.
Er drückte ihr die Hand, um sie seiner Liebe zu versichern. Dann drehte er sich um und blickte aus dem offenen Fenster. Es war Wind aufgekommen, der ihm den Nieselregen ins Gesicht trieb. Er hatte sie verletzt, das wusste er. Und sie hatte ihn verletzt und wusste dies ebenfalls.
Ermintrude strich die Falten ihres bauschigen Seidenrocks glatt. Wie konnte sie ihre Worte wieder gut machen? Solche schmerzlichen Auseinandersetzungen hatten sie schon öfter geführt. Anschließend machte immer der eine oder der andere oder mitunter auch beide gleichzeitig den ersten Schritt, um sich zu entschuldigen. Diesmal war es Markus. Im Hof ging etwas vor sich, das er dazu nutzte, die Situation zu entspannen.
»Barbaren vor den Toren«, bemerkte er fröhlich. »Ich glaube, das ist eine Invasion.«
Dankbar ging Ermintrude auf sein Friedensangebot ein. Mit raschelnden Röcken trat sie neben ihn.
Dort unten sah sie den grauen Schopf von Gunderson, dem alten Seneschall, der einen Gefangenen abführte. Der alte Lehrer des Königs war inzwischen runzlig und ging gebeugt. Seine knorrigen Glieder hätten einer alten Eiche gehören können, so krumm waren sie. Der ganze Mann glich einer solchen Eiche und schien ebenso betagt zu sein. Der Mensch, der neben ihm lief, mochte gut und gern der Zeit jener toten Verben entstammen, die Markus an diesem Tag konjugiert hatte. Es war eine Person mittleren Alters mit langen, schwarzen Zöpfen, die unter einer einfachen Lederkappe heraushingen. Über dem Lederwams und der engen Hose hing ein nasses Wollhemd, das von einem Schwertgurt mit leerer Scheide zusammengehalten wurde. Die Waffe hatten die Wachen am Tor beschlagnahmt.
Aus dem Schwertgurt und den Hosen schlossen die meisten Leute, dass die Person ein Mann war. Auch Ermintrude ließ sich zunächst täuschen, sah dann jedoch genauer hin.
»Das ist ja eine Frau«, stellte sie verwundert fest. Sie wusste nicht genau, weshalb, doch sie war sich ihrer Sache sicher.
Vielleicht war es die Anmut der Bewegungen, eine Neigung im langen Hals, das Zusammenspiel von schmalen Schultern und muskulösen Armen. Eine Frau mit einem Schwertgurt, die unter Bewachung zum Schloss geführt wurde.
Ermintrude griff nach dem Arm ihres Sohnes, eine verzweifelt klammernde Geste.
»Was ist denn, Mutter?«, fragte dieser überrascht. »Deine Hände sind eiskalt!«
Nicht nur ihre Hände waren plötzlich wie Eis. Ihr Herz schien zu gefrieren.
Ermintrude
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