Das verbotene Land 2 - Drachensohn
kannte die Frau, die dort mit langen, zielgerichteten Schritten über den Hof lief. Sie kannte sie gut, obwohl sie diese Frau nie gesehen hatte. Vielleicht war es Edwards Beschreibung, obwohl dieser nur einen flüchtigen Blick auf sie erhascht hatte, eine Reiterin mit gespanntem Bogen, die ihren Pfeil abschoss. Vielleicht war es auch einfach Instinkt, der Instinkt einer Mutter. Oder es war die Angst, die in Ermintrude lebte, seit Gunderson ihr damals das hilflose Neugeborene in die Arme gelegt hatte.
Die Angst, dass diese Frau eines Tages kommen würde, um Anspruch auf Melisandes Sohn zu erheben.
»Mutter«, bat Markus, der wärmend ihre Hände rieb. »Bitte sei nicht böse. Ich denke über deine Worte nach, Mutter, wirklich. Nur … die Magie ist einfach ein Teil von mir.«
Ermintrude zwang sich zu einem Lächeln, doch es kam nicht von Herzen. »Ich weiß, mein Schatz. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Du bist mir so lieb, so lieb.« Sie merkte, dass sie anfing, Unsinn zu reden.
»Ich kann nicht noch eine Magd hochschicken«, fügte sie hinzu. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht, hoffte jedoch, dass er den falschen Ton nicht bemerkte. »Sammel du doch bitte die Scherben auf. Wirf sie in den Mülleimer. Ich schicke jemanden, der ihn leert.«
Mit schwingenden Röcken eilte sie zur Tür und fegte dabei kleinere Scherben auf, die über den Boden kratzten. Ungeduldig hob sie den Rock und schüttelte alle Bruchstücke ab.
»Es gibt noch Liebe«, sagte sie und war verschwunden, ehe er etwas dazu sagen konnte. Dabei schloss sie so rasch die Tür, dass sie beinahe ihre Röcke eingeklemmt hätte.
Erstaunt sah er ihr nach. Dann warf er einen Blick auf den zerbrochenen Krug, dessen Scherben jetzt im ganzen Zimmer verstreut lagen. Die Erinnerung an die Staubflocken ließ ihn erneut grinsen, doch dann regte sich sein Gewissen.
»Sie ist der liebste Mensch auf der Welt«, erzählte er reuevoll dem Regen. »Doch ich tue ihr so weh. Dabei will ich das gar nicht. Und ich tue es trotzdem.«
Innerlich rügte er sich, während er die Stücke zusammenkehrte und wegwarf. Dann setzte er sich an den Tisch, um zur Strafe erneut die aschegrauen Verben der Toten zu wiederholen. Vermutlich würden sie sich in Vampire verwandeln und seine Seele aussaugen.
»Die Frau wollte Euch nicht ihren Namen verraten«, stellte Edward fest. Er sah von dem Schriftstück auf, das er gelesen hatte. »Und nicht den Grund ihres Kommens. Aber dennoch soll ich sie empfangen?«
»Ja, mein König«, beharrte Gunderson.
»Im Namen Gottes – warum?«, wollte Edward aufgebracht wissen.
Er saß mit einem Becher Glühwein in einem Sessel am prasselnden Kaminfeuer, auf dem Leseständer vor sich aufgeschlagen ein neues Buch über Astrologie, das angeblich revolutionäre Theorien über die Umlaufbahnen der Planeten enthielt.
Gunderson saugte kurz die Lippe ein, ehe er antwortete: »Weil ich sie kenne, mein König.«
Edward fuhr nervös zusammen. »Woher?«
»Aus dem Haus, wo Euer Sohn zur Welt kam.«
Der König schlug das Buch zu und stand auf.
»Ihr sagt, sie wollte den Grund ihres Kommens nicht nennen. Wie ist es ihr dann gelungen, das Palastgelände zu betreten? Sie muss doch jemandem etwas gesagt haben.«
»Sie hat den Wachen erklärt, sie müsse Euch in einer dringenden Angelegenheit sprechen. In ihrem Aufzug – sie ist schon ein Anblick …« Gunderson schüttelte den Kopf. »Nun, man hätte sie wohl abgewiesen, aber sie hat behauptet, es würde Euch noch Leid tun, wenn Ihr sie nicht empfangen würdet. Das war Absicht, Herr, denn sie wusste, dass man sie dafür festnehmen und in den Kerker werfen würde. Als ich sie sah, erkannte ich sie sofort. Sie erkannte mich ebenfalls wieder.« Er zuckte mit den Schultern.
»Und ich soll sie wirklich vorlassen?«, vergewisserte sich Edward.
»Nicht ihr Schwert ist es, das mir Sorge bereitet, mein König. Sie kann reden. Und sie kennt eine spannende Geschichte.«
»Wer sollte die glauben?«
»Eure Feinde, mein König«, erinnerte Gunderson.
Edward sah wieder zu dem Buch hinüber. Geistesabwesend fuhren seine Finger über die erhabenen Blattgoldbuchstaben auf dem Ledereinband.
»Weinmauer, meint Ihr. Ich … Meine Königin«, fügte er hinzu, als er Ermintrude in der Tür bemerkte. »Das ist kein guter Zeitpunkt!«
»Du musst sie vorlassen, Ned«, begann Ermintrude mit Nachdruck. Mit wirbelnden Reifröcken brach sie in den Raum ein, als wäre sie das Auge eines Sturms aus Seide. »Sie ist gekommen, um
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