Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
die Meisterin in scharfem Ton ab. »Ich reise allein.«
Noch nie hatte Anna eine Entscheidung der Drachenmeisterin in Frage gestellt, aber diesmal rutschte es ihr doch heraus: »Meisterin, hältst du das denn für klug?«
»Willst du behaupten, ich benähme mich wie eine Närrin?«, gab die andere zurück. Sie drehte sich nicht um, sondern starrte weiter aus dem Fenster.
»Vergib mir, Meisterin, ich wollte nicht respektlos erscheinen«, antwortete Anna. »Wenn aber außerhalb des Tales tatsächlich eine Gefahr lauert, wie du sagst, dann solltest du eine bewaffnete Eskorte haben. Bitte lass mich die Wachen rufen.«
Die Meisterin schlug einen freundlicheren Ton an. »Ich bin es, die um Verzeihung bitten sollte, Tochter. Ich wollte dich nicht anfauchen. Ich mache mir nur Sorgen, weiter nichts. Sorge und Angst. Nicht um mich«, fügte sie eilig hinzu, »sondern um mein Volk. Ich muss schnell und im Verborgenen reisen, damit der Feind nicht merkt, dass ich Seth verlassen habe. Eine Eskorte würde mich nur Zeit kosten und unerwünschte Blicke auf sich ziehen. Außerdem – je weniger wissen, dass ich fort bin, desto besser. Sag niemandem etwas von meiner Abreise. Tu so, als wäre ich noch da.«
»Ich verstehe, Meisterin«, willigte Anna ein, obwohl sie durcheinander war. Sie konnte nicht gut Geheimnisse bewahren. Wie sollte ihr das gelingen?
Ihre nächste Frage war ihr völlig unschuldig vorgekommen, aber sie hatte eine überraschende Reaktion hervorgerufen. Deshalb ging dieses Gespräch Anna noch immer ständig im Kopf herum.
»Meinst du nicht, du solltest wenigstens dein goldenes Medaillon hierlassen, Meisterin?«
Die Hand der Meisterin fuhr an ihren Hals, wo das Medaillon in der Halsgrube ruhte. Besitzergreifend, fast gierig, packte sie es und drehte sich so plötzlich zu Anna um, dass diese erschrak.
»Was meinst du damit?«, herrschte die Meisterin sie an und machte einen Schritt auf sie zu. »Warum empfiehlst du mir, das Medaillon abzunehmen?«
»Ich meine gar nichts, Meisterin!«, wehrte Anna erschüttert ab. Die heftige Reaktion der Frau hatte sie irritiert. »Aber Diebe könnten das Gold schimmern sehen und in Versuchung geraten.«
Die Meisterin starrte sie durchdringend an. Dann schickte sie die Hohepriesterin mit einer matten Handbewegung davon.
»Geh und kümmere dich um deine Aufgaben, Tochter. Bleib wachsam. Pass gut auf. Ich fürchte, die Drachen greifen genau in diesem Moment an. Das Schicksal unseres Reiches liegt in deiner Hand. Dein Leben lang wurdest du auf diesen Moment vorbereitet, Hohepriesterin«, fügte die Meisterin angesichts von Annas unglücklichem Gesichtsausdruck fort. »Zusammen mit deinen Schwestern wirst du die Drachen in Schach halten. Ich habe volles Vertrauen zu dir.«
Bald darauf musste die Meisterin abgereist sein, denn als Anna wieder Gelegenheit fand, zu ihr zu gehen, war sie nicht mehr da und der Beutel mit ihren Kleidern verschwunden.
Anna war ihren Pflichten nachgegangen, wie die Meisterin es ihr befohlen hatte. Aber allmählich war die Anstrengung, ihr Volk zu beschützen und die Lüge aufrechtzuerhalten, dass die Meisterin noch unter ihnen weilte, ihr anzumerken. Die halbe Nacht lag sie wach, und wenn sie schließlich erschöpft einschlief, erwachte sie zitternd vor Angst, weil sie von Drachen geträumt hatte. Ihr Appetitmangel war so auffällig, dass sie befürchtete, die anderen Schwestern würden bald Verdacht schöpfen. So zwang sie sich, ihr Essen herunterzuwürgen, aber auch das half nicht viel, denn hinterher wurde ihr regelmäßig übel.
Vielleicht sah sie unterwegs die Geister, weil sie zu wenig schlief und aß. Beim Gehen trat sie auf den Steinen in die Fußstapfen von Melisande und all den anderen, die sie jetzt umgaben. Anna zitterte in der morgendlichen Kühle und zog den Mantel fester um sich. Früher hatte sie sich auf dieses Morgenritual gefreut, das ihre Stellung als Hohepriesterin betonte. Jetzt fürchtete sie es, denn jeder neue Tag konnte der Tag sein, an dem die Drachen herbeiflogen, um ihr Volk anzugreifen. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Geister von Melisande und den Übrigen heute näher zu rücken schienen als bisher. Heute war der Tag, an dem die Drachen kamen.
Ihr Magen krampfte sich so zusammen, dass Anna fürchtete, sie müsste sich übergeben. Aber sie durfte die heiligen Steine dieses Pfades nicht entweihen. Dieser Gedanke war so alarmierend, dass sie sich zwang, ihre Gedanken von den Geistern zu lösen. Als sie aus dem
Weitere Kostenlose Bücher