Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
schreckliche Geschichte, die Lucretta, die neue Drachenmeisterin, allen erzählt hatte, hatte Anna nicht glauben können.
Diese Zweifel hatte sie sogar offen geäußert, natürlich nicht gegenüber der Meisterin, aber doch gegenüber anderen Schwestern. Sie hatte es sogar gewagt, bei Bellona, der Anführerin der Kriegerinnen, die das Kloster beschützten, ein gutes Wort für Melisande einzulegen. Die Kriegerinnen sollten damals Melisande aufspüren und entweder zurückbringen, damit man ihr den Prozess machen konnte, oder sie töten. Bellona hatte dem Mädchen so hart ins Gesicht geschlagen, dass sie zu Boden gestürzt war. Dann war sie weggegangen. Anna hatte den grausamen Schmerz in den Augen der Frau bemerkt, die Melisande geliebt hatte. So war das Mädchen in ihre Zelle geschlichen, wo es in der Einsamkeit bittere Tränen vergossen hatte. Danach hatte Anna Melisandes Namen nie wieder erwähnt, auch wenn sie ihn im Herzen trug.
Dann verschwand auch Bellona auf der Suche nach Melisande bei Nacht und Nebel. Sie war ihr nachgelaufen, hatte die Meisterin ihnen verächtlich mitgeteilt. Alle beide Verräter. Die anderen Kriegerinnen berichteten, Bellonas Pfeile hätten Melisande nie getroffen – was auffällig war, weil Bellonas Pfeile ihr Ziel noch nie verfehlt hatten. Die Kriegerinnen hatten nach den beiden gesucht, und eines Tages waren sie zurückgekehrt und hatten erzählt, sie hätten Bellona und Melisande aufgespürt und getötet.
Die Leichen hatten sie jedoch nicht mitgebracht, weil sie es angeblich nicht verdient hatten, in der Heimat begraben zu werden, die sie beide verraten hatten. Vielleicht deshalb, vielleicht auch weil die Kriegerinnen nie über diesen Kampf sprachen und immer auswichen, wenn jemand anderes das Thema anschnitt, war Anna davon überzeugt, dass sie logen. Insgeheim hatte sie sich ihre eigene Geschichte zurechtgelegt, eine Version, in der Bellona und Melisande noch lebten und irgendwo zusammen glücklich waren.
Deshalb beunruhigten diese Augen Anna auch so sehr. Sie fühlte Melisandes Blick auf sich ruhen, als sie den Weg zum Tempel ablief. Es war nur ein Gefühl. Sie sah keinen Geist vor sich, aber sie spürte Melisandes Gegenwart und ihre Sorge. Noch nie hatte sie so etwas erlebt. Sie war seit einem Jahr Hohepriesterin. Damals war ihre direkte Vorgängerin einem Krebsgeschwür erlegen. Seit einem Jahr ging sie jeden Morgen diesen Pfad entlang, aber erst seit etwa einer Woche war sie sich der Geister bewusst.
Den anderen Schwestern hatte sie nichts davon gesagt. Sie wusste, was sie sagen würden – sie würde sich alles nur einbilden. Sie hätte eben Angst, weil die Drachenmeisterin fort wäre, etwas, das in Seth seit Menschengedenken nicht mehr vorgekommen war. Die Meisterin war nicht da, und ihre Abschiedsworte an Anna hatten mehr als ausgereicht, um jede Menge geisterhafter Erscheinungen auf den Plan zu rufen.
»Ich gehe nicht freiwillig«, hatte die Meisterin zu Anna gesagt. In ihrer Stimme hatten Zorn und Trauer gelegen. »Ich gehe, weil es notwendig ist. Zum ersten Mal seit vielen hundert Jahren steht unserem Königreich eine Gefahr bevor, der wir uns nicht allein stellen können. Ich brauche die Hilfe eines Verbündeten, eines Schwesterreiches.«
Anna hatte gestaunt. »Ein Schwesterreich? Meisterin, vergib meine Unwissenheit, aber ich ahnte nicht …«
»Niemand in Seth weiß davon. Und auch jetzt würde es niemand erfahren, wenn die Ereignisse in der harten Welt jenseits unserer Berge mich nicht gezwungen hätten, um Hilfe zu bitten.«
Die Hohepriesterin hatte der Meisterin beim Packen geholfen. Sorgfältig hatte sie die kostbare Robe zusammengelegt, die sie unterwegs nicht tragen wollte, um sie nicht zu verderben. Anna erinnerte sich, wie der dicke, weiche Wollstoff sich angefühlt hatte, als sie ihn in den Lederbeutel gestopft hatte, den die Meisterin auf ihren Ritt mitnehmen wollte. Die Meisterin selbst war in Gedanken und zeigte wenig Interesse am Packen. Sie lief auf und ab, klopfte abwesend die Handgelenke aneinander und dachte dabei nach. Hin und wieder warf sie einen scharfen, abschätzigen Blick auf Anna, ohne jedoch etwas zu sagen.
Als diese fertig war, merkte sie, dass die Meisterin aus dem Fenster starrte. Anna hatte den Eindruck, dass sie innerlich bereits weit fort war.
»Das Gepäck ist bereit, Meisterin«, sprach Anna sie an. »Wenn du gestattest, werde ich jetzt dafür sorgen, dass deine Eskorte sich zum Aufbruch rüstet.«
»Keine Eskorte«, wehrte
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