Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
hielt den Atem an und kämpfte gegen den Drang, eine Warnung auszustoßen, denn unter den hässlichen Wirbeln der Oberfläche sah er die Farben von Drakonas' Geist – klar umrissen, kalt und scharf. Sein nur scheinbar verwirrtes Flattern hatte ihn in Wahrheit näher an den alten Drachen herangeführt. Jetzt, wo er scheinbar wehrlos unter Maristara lag, vollführte Drakonas eine Seitrolle, die ihn ihren mörderischen Klauen entzog. Gleich darauf warf er sich zurück und schoss pfeilgerade auf Maristara zu.
Dieses Manöver überrumpelte den älteren Drachen. Maristara blieb keine Zeit, dem Angriff auszuweichen. Drakonas senkte den Kopf, wodurch die Stacheln seiner Mähne zum Rammsporn wurden, mit dem er Maristara mitten in die Flanke traf.
Die Wucht des Aufpralls brachte beide Drachen ins Trudeln. Drakonas riss bei seiner Gegnerin eine blutende Wunde und katapultierte sie quer über den Himmel, aber sie stürzte nicht ab. Maristara war zäh und gerissen. Außerdem hatte sie – im Gegensatz zu dem jüngeren Drakonas – bereits mit anderen Drachen gekämpft.
Aber sie war verletzt. Obwohl alles in ihr darauf brannte, den Kampf fortzusetzen und diesen Drachen zu töten, konnte sie sich diesen Luxus nicht leisten.
Verdammter Grald! Dieser Wurm! Wenn er sich nicht hätte umbringen lassen, hätte sie ihrem Hass nachgeben und den Zweibeiner fertigmachen können. Aber wenn sie jetzt umkam, konnte nur noch Anora ihre Armee gegen die Menschen führen, und die hatte eigene wichtige Aufgaben. Zudem traute Maristara Anora einfach nicht. Maristara traute niemandem.
Ihr Luftraum reichte noch für ein Stück freien Fall. Mit einem Auge bei Drakonas zog sie sich zum Fluss und in Richtung Drachenburg zurück. Sie konnte es sich leisten, in die Sicherheit von Gralds Hort zurückzukehren, wo ihre Wunden heilen konnten. Ihre Armee wurde dadurch zwar angreifbar, aber sie kannte Drakonas und seine besondere Schwäche.
Ihr Gegner war schwerer verletzt, als er in der Hitze des Gefechts bemerkt hatte. Wie Maristara hatte er Menschen, die von ihm abhängig waren, auch wenn er die Ironie der Lage erkannte.
Wegen der Menschen mussten die Drachen aufhören, einander an den Kragen zu gehen. Wegen der Menschen hatte der Kampf überhaupt erst begonnen. Beide zogen sich nun schwankend zurück, obwohl sie wussten, dass die Schlacht nicht zu Ende, sondern nur verschoben war.
»Wo will er denn hin?«, rief Edward. »Töte sie, Drakonas! Töte die Drachenkrieger! Überziehe sie mit deinem Feuer! Mach mit ihnen, was sie mit uns getan haben. Markus, sag du es ihm.«
Drakonas ließ seine Farben grau werden.
»Du musst sie töten!«, bedrängte Markus den Drachen. »Du hast doch gesehen, was sie getan haben! Du weißt, was sie uns antun können.«
»Das Gesetz der Drachen verbietet mir, Menschen zu töten«, erwiderte Drakonas.
»Ein Gesetz, dem nur du noch gehorchst!«, warf Markus ihm vor.
»Möglich. Vielleicht bin ich der Einzige. Vielleicht auch der Letzte. Ich hoffe nicht. Es ist zu einfach für uns, Menschen zu töten.«
»Es wird der Tag kommen, wo es einfach für uns ist, einen Drachen zu töten«, entgegnete Markus hitzig.
»Genau davor haben wir Angst, Markus«, pflichtete Drakonas ihm bei. »Verstehst du es denn noch immer nicht? Genau davor haben wir Angst.«
35
Im grauen Dämmerlicht des frühen Morgens beschritt die Hohepriesterin von Seth den Pfad zum Tempel des Wachsamen Auges, um dort den Ritus des Schauens zu vollziehen. Obwohl sie allein ging, weil niemand außer der Hohepriesterin dieses Ritual durchführen konnte, kam es ihr so vor, als würde sie von den Geistern all derer beobachtet, die vor ihr diesen Weg beschriften hatten. Und ihre Augen waren von düsteren Vorahnungen umschattet.
Die meisten anderen waren vage Fantasiegestalten, die sie nur aus alten Geschichten kannte. Eine hingegen erschien ihr sehr wirklich und nahe: Melisande, ihre Vorgängerin, die vor siebzehn Jahren ihre Berufung in den Wind geschlagen hatte und mit einem Liebhaber davongelaufen war. Sie hatte Seth, ihre Verantwortung und ihre Pflichten hinter sich gelassen. Anna hatte Melisande nie nahegestanden. Als zwölfjähriges Mädchen hatte sie viel zu viel Respekt vor der Hohepriesterin gehabt und nie gewagt, diese anzusprechen. Aber Melisande hatte hin und wieder etwas zu ihr gesagt und immer ein freundliches Lächeln für sie gehabt. Anna hatte Melisande bewundert, ja, vergöttert. Ihr Versagen hatte das Mädchen schwer erschüttert. Die
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