Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
Schatten der schützenden Fichten trat, wurde ihr klar, wie spät es schon war. Die Sterne verblassten. Schon verfärbte das Rosa und Gelb der Morgenröte den Horizont. Anna ging schneller. Sie umrundete ein paar Pinien und sah nun die schwarzen Marmorsäulen des Heiligtums, das außerhalb der Klostermauern auf einem Vorsprung stand, von dem aus man das ganze Tal und die Stadt darin überblicken konnte.
Die Säulen hüteten das Einzige, was in dem kleinen Tempel wartete. Eilig stieg Anna über die Marmorstufen hinauf zu der großen, weißen Marmorschale. Erst als sie dort ankam, fiel ihr auf, dass sie vergessen hatte, ihre Schuhe auszuziehen. Peinlich berührt schlüpfte sie aus den Sandalen und warf sie durch die Säulen nach draußen.
Sie kniete neben der Schale nieder, um sich kurz zu sammeln. Aber das war unmöglich. Anna zitterte noch mehr. Nun goss sie heiliges Wasser aus dem Flakon, der neben der Schale stand. Dabei bebte ihre Hand so sehr, dass sie ihr Gewand bespritzte. Wieder ein Regelverstoß.
Anna zwang sich zur Konzentration. Sie starrte eindringlich auf das Wasser, direkt in die Iris aus Lapislazuli, die in dem Heiligen Auge auf dem Boden der Schale eingelassen war, in der nachtschwarzen Pupille des allsehenden Auges. Sie wartete, bis das Wasser sich ganz beruhigt hatte. Dabei wurde auch sie ruhiger. Als die letzten Wellen von der Oberfläche verschwunden waren, sprach Anna das rituelle Gebet, das sie jeden Morgen sagte, so wie Melisande und jede Hohepriesterin vor ihr es jeden Morgen voll Zuversicht und Festigkeit gesprochen hatten.
»Weite dich, du Hüter unseres Reiches, und lass mein Auge schauen, was du schaust.«
Das Auge zeigte ihr, was sie immer sah: das Tal, die Berge, die Stadt und das Kloster des Heiligen Ordens des Auges. Das alles kannte sie und seufzte schon erleichtert auf, als sie plötzlich halb befremdet, halb erstaunt hörbar die Luft einsog.
Die Hohepriesterin von Seth sah nicht, was sie befürchtet und erwartet hatte. Das Auge zeigte ihr nicht die Drachen, die auf ihr Reich zuflogen, um es zu zerstören und alle zu töten.
Das Auge zeigte ihr einen jungen Mann.
Erstaunt rieb Anna sich die Augen, blinzelte und fragte sich, wie das heilige Auge einen solchen Fehler machen konnte. Der junge Mann kam vom Fluss her. Er stieg über die Berge und wanderte durch das Tal. Es war ein gut aussehender Jüngling von vielleicht sechzehn Jahren mit blonden Haaren und blauen Augen, die ihr direkt ins Gesicht schauten.
Anna war verwirrt. Dann fiel ihr etwas sehr Seltsames auf. Der junge Mann hatte Tierbeine. Genauer gesagt, die Beine eines Drachen.
Anna wusste nicht, was sie tun sollte. War dieser Halbmensch oder Halbdrache gefährlich? Es musste wohl so sein, sonst hätte das Auge ihn ihr nicht gezeigt. Aber wie konnte ein junger Mann, selbst wenn er halb Tier war, ein ganzes Königreich bedrohen?
Da sah sie mehrere wie ihn, die hinterherkamen, über den Fluss und den Berg hinauf. Eine junge Frau mit dem Körper eines Drachen und zarten Flügeln, die aus ihren Schultern wuchsen. Ein kräftiger Junge, dessen Menschenleib von oben bis unten mit Schuppen bedeckt war, und Jüngere mit Klauenfüßen oder Klauenhänden, schuppenbesetzten Armen und Schwänzen. Doch alle hatten Menschenaugen, die Anna unaufhörlich anschauten.
Der junge Mann war schon ziemlich nahe. Urplötzlich wurde Anna klar, dass er sie ebenso deutlich sehen konnte wie sie ihn. Sein Gesicht kam ihr vertraut vor, besonders die Augen. Sie hatte das Gefühl, ihn schon lange zu kennen.
Die Hohepriesterin umfasste die Ränder des Marmorbeckens mit beiden Händen, um nicht auf dem Boden zusammenzusinken.
»Wer seid Ihr?«, rief sie.
Seine Antwort verstand sie nicht und glaubte sie auch anfangs nicht. Anna hörte darin etwas, das tatsächlich den stillen Frieden der Menschen von Seth erschüttern würde.
»Wir sind eure Kinder.«
36
»Das Ziel ist unser Schloss in Ramsgate, Vater.« Markus redete nur mit Mühe und in kurzen Sätzen. Seine gebrochenen Rippen machten jeden Atemzug zur Qual. »Genauer gesagt, die Kanonen. Wir müssen sofort zurück.«
Prinz Wilhelms Ärzte hatten Markus mit Mohnsaft die Schmerzen nehmen wollen, aber er brauchte einen klaren Kopf, zumindest bis er seinem Vater die Gefahr vor Augen geführt hatte. Schon jetzt hatte er eine Nacht verloren, denn als die Ärzte die ausgekugelte Schulter wieder eingerenkt hatten, hatte er das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte man ihm
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