Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
worden. Man hatte sie gut behandelt. Zwei junge Männer in wollenen Gewändern, deren zusammengeschlungenes Haar mit Quasten auf dem Kopf fixiert war und die rote, gewebte Schärpen um die Taille trugen, hatten sie von einem Landeplatz vor den Mauern des Klosters hereingeführt.
In einer Ecke brannte eine Butterlampe aus getriebenem Kupfer von der Größe eines Waschbeckens und erfüllte den Raum mit ihrem Duft. Die Fenster standen offen, und kühle Luft strömte herein und milderte den hypnotisierenden Ein fluss der Flamme. Gelegentlich hörte man in der Ferne ein Yak grunzen. Ni begriff, dass er nicht durch die geöffneten Fenster entkommen konnte, da sie auf einen Hof hinausführten, der von den Mauern des Klosters umschlossen war.
Sokolov saß auf einem von mehreren lackierten Stühlen, die ungewöhnlich fein gearbeitet und schön gestaltet waren. Teure Teppichläufer bedeckten den Marmorboden. Offensich tlich hatte die Ba etwas für ein angenehmes Leben übrig.
Die Tür ging auf.
Ni drehte sich um und erblickte Pau Wen.
»Ich hatte schon erfahren, dass Sie nach China zurückgekehrt sind«, sagte Ni zu dem älteren Mann.
Pau trug ein goldgelbes Gewand, eine interessante Farbwahl, denn sie stand, wie Ni wusste, für den Thron. Zwei junge Männer standen hinter Pau, jeder mit einer geladenen Armbrust bewaffnet, die sie angelegt hielten.
»Minister Tang ist unterwegs«, sagte Pau.
»Kommt er meinetwegen?«, fragte Sokolov.
Pau nickte. »Ihre revolutionäre Entdeckung ist entscheidend für seinen Plan.«
»Woher wissen Sie von meiner Entdeckung?«
»Weil Karl Tang ein Bruder der Ba ist.«
Ni erinnerte sich an das Telefongespräch und die Entzweiung von Pau und Tang. »Sie lügen gut.«
Pau schien die Beleidigung zu schlucken. »Ich gehöre schon fast mein ganzes Erwachsenenleben zur Bruderschaft. Im Alter von achtundzwanzig Jahren wurde ich dem Messer unterworfen. Mit vierzig stieg ich zum Hegemon auf. Aber bezweifeln Sie nicht, dass ich China liebe. Seine Kultur, sein Erbe. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um es zu erhalten.«
»Sie sind ein Eunuche, so falsch wie alle, die vor Ihnen kamen.«
»Aber viele von uns haben Großes geleistet und unsere Pflichten geschickt und ehrenhaft erfüllt. Tatsächlich zeigt die Geschichte, Herr Minister, dass diese weit zahlreicher waren als die anderen.«
»Und zu welcher Sorte gehören Sie?«, fragte Ni.
»Ich bin kein Ungeheuer«, erklärte Pau. »Ich bin freiwillig nach Hause zurückgekehrt.«
Das beeindruckte Ni nicht im Geringsten. »Und warum?«
»Um zu sehen, wer China führen wird.«
»Das scheint doch schon entschieden zu sein.«
»Ihr Zynismus ist kontraproduktiv. Das habe ich Ihnen schon in Belgien zu sagen versucht.«
»Wo ist mein Sohn?«, fragte Sokolov. »Man hat mir gesagt, er sei hier.«
Pau winkte, und die beiden Brüder, die hinter ihm standen, traten zur Seite. Ein weiterer Bruder trat vor. Er hielt einen kleinen, vielleicht vier- oder fünfjährigen Jungen an der Hand, der dasselbe Haar und Gesicht hatte wie Sokolov. Der Junge erblickte seinen Vater und stürzte sich auf ihn. Sie umarmten sich, und Sokolov begann rasch auf Russisch zu sprechen. Beide schluchzten.
»Sehen Sie«, sagte Pau. »Es geht ihm gut. Er war die ganze Zeit hier und wurde gut versorgt.«
Sokolov hörte nicht zu und bedeckte den Jungen mit Küssen. Ni, der nicht verheiratet und kinderlos war, konnte sich den Schmerz, den der Vater durchlitten hatte, nur bedingt vorstellen.
»Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, alle hierherzulocken«, sagte Pau.
Das glaubte Ni ihm gerne. »Und was wird dadurch entschieden?«
»Das Schicksal Chinas, wie schon so oft im Laufe der Jahrhunderte. Genau das hat unsere Kultur zu etwas so Besonderem gemacht. Dadurch haben wir uns von allen anderen unterschieden. Kein Kaiser hat je nur aufgrund seiner Abstammung regiert. Er hatte vielmehr die Verantwortung, ein moralisches Beispiel für seine Regierung und sein Volk abzugeben. Wenn er korrupt oder unfähig war, hat man Rebellion immer als legitimes Mittel betrachtet. Jeder Bauer, dem es gelang, eine Armee um sich zu scharen, konnte eine neue Dynastie begründen. Und das ist oft genug geschehen. Wenn seine Her rschaft zu Wohlstand führte, glaubte man, dass er das ›Mandat des Himmels‹ erworben habe. Man erwartete von seinen männlichen Erben, dass sie ihm nachfolgten, aber auch ihre Herrschaft konnte gestürzt werden, wenn man sie für unfähig hielt. Das Mandat des
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