Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
die Tastatur, und der Bildschirm erwachte zum Leben.
Der Mann stand aufrecht da. Er schien in den Dreißigern zu sein, und seine Gesichtszüge waren eher mongolisch als chinesisch. Das schwarze Haar war locker zusammengebunden. Er trug ein weißes Gewand mit breiten Ärmeln, das am Kragen blassgrün verziert war. Drei Männer, die schwarze Hosen und lange, graue Kittel mit einer kurzen, indigoblauen Jacke darüber trugen, umringten ihn.
Der Mann legte sein Gewand ab.
Sein blasser nackter Körper war muskulös. Zwei seiner Begleiter umwickelten seinen Bauch und die Oberschenkel straff mit weißen Binden. Als sie fertig waren, wusch der dritte Helfer ihm den entblößten Penis und die Hoden.
Die Waschung wurde dreimal wiederholt.
Der Mann setzte sich halb zurückgelehnt auf einen Stuhl. Seine gespreizten Beine wurden von den zwei ersten Begleitern festgehalten. Der dritte Teilnehmer trat zu einem lackierten Tisch und nahm ein gebogenes Messer mit rissigem Knochengriff von einem Tablett.
Er trat zu dem Sitzenden und fragte deutlich und befehlend: »Hou huei pu hou huei?«
Der Mann wägte die Frage – wirst du es bereuen oder nicht – ruhig dasitzend ab und verneinte mit einem Kopfschütteln, ohne die geringste Angst oder Unsicherheit zu zeigen.
Der Mann mit dem Messer nickte. Dann entfernte er mit zwei raschen Schnitten die Hoden und den Penis des Mannes. Er schnitt sie dicht beim Körper ab und ließ nichts zurück.
Kein Laut ertönte.
Die beiden Helfer hielten die zitternden Beine des Mannes fest.
Blut floss aus der Wunde, aber der dritte Mann hantierte an der Verletzung herum, was dem Sitzenden unübersehbare Schmerzen bereitete. Noch immer gab er keinen Laut von sich. Sein Gesicht zeigte schreckliche Qualen, aber er schien sich unter Kontrolle zu bekommen und zu beruhigen.
Etwas, das wie in Wasser getränktes Papier aussah, wurde mehrere Schichten dick auf die Wunde aufgebracht, bis kein Blut mehr heraussickerte.
Man half dem sichtlich zitternden Mann von der Couch. Sein Gesicht zeigte gleichzeitig Erregung und Angst.
»Er wurde zwei Stunden lang im Raum herumgeführt, bevor man ihm gestattete, sich hinzulegen«, berichtete Pau.
»Was … was war das?«, fragte Ni, dem man das Entsetzen über das Video anhören konnte.
»Eine Zeremonie, die in unserer Geschichte schon hunderttausend Mal durchgeführt wurde.« Pau zögerte. »Das Verschneiden eines Eunuchen.«
Ni wusste über die Eunuchen und die komplizierte Rolle, die sie zweitausendfünfhundert Jahre lang in China gespielt hatten, Bescheid. Die Kaiser galten als Träger eines mystischen »Mandats des Himmels«. Dieses Konzept war die offizielle Rechtfertigung ihres Anspruchs auf Herrschaft. Um eine Aura der Heiligkeit zu bewahren, wurde das persönliche Leben der kaiserlichen Familie abgeschirmt. So konnte niemand ihre menschlichen Schwächen beobachten. Nur weibische Eunuchen, die gänzlich vom Kaiser abhängig waren, galten als demütig genug, um Zeugen seiner Privatsphäre zu werden. Das System war so erfolgreich, dass es zum festen Bestandteil des Kaiserpalasts wurde, aber die häufigen und vertraulichen Kontakte mit dem Kaiser verschafften den Eunuchen einen einfachen Zugang zur Macht. Da sie kinderlos waren, hätte ihnen die politische Macht eigentlich gleichgültig sein sollen, denn sie konnten sie ja nicht an ihre Söhne vererben. Gleichfalls hätte ihnen das Bedürfnis nach Reichtümern fremd sein sollen.
Doch das Gegenteil war der Fall.
Die Kaiser wurden irgendwann zu reinen Spielfiguren dieser Parias, und die Eunuchen erhielten mehr Macht als jeder Regierungsminister. Viele Kaiser trafen sich nicht einmal mit den Regierungsverantwortlichen. Vielmehr wurden die Entscheidungen des Kaisers von Eunuchen aus dem Palast gebracht und die Antworten seiner Minister von ihnen in den Palast zurückbefördert, und schließlich wusste keiner mehr, wer die Verfügungen eigentlich wirklich erließ oder wer sie tatsächlich zugestellt bekam. Nur die gewissenhaftesten Herrscher mieden den Einfluss der Eunuchen, doch deren Zahl war begrenzt. Im zwanzigsten Jahrhundert, als der letzte Kaiser aus dem Kaiserpalast vertrieben wurde, schaffte man das System dann endlich ab.
»Eunuchen gibt es nicht mehr«, erklärte Ni.
»Warum glauben Sie das?«
Nis Angst, dass seine Worte vielleicht aufgezeichnet wurden, ließ nach. »Wer sind Sie?«
»Ich bin ein Mensch, der sich unserer Vorfahren bewusst ist. Ein Mensch, der Zeuge der massenhaften Zerstörung all
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