Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
dessen geworden ist, was uns über Jahrtausende heilig war. Ich bin ein Chinese.«
Ni wusste, dass Pau in der nördlichen Provinz Liaoning geboren worden war. In einer Zeit, als es jungen Chinesen gestattet gewesen war, Universitäten im Ausland zu besuchen, hatte er in Frankreich studiert. Der belesene Mann, der sechs historische Abhandlungen veröffentlich hatte, hatte es geschafft, Maos sämtliche Säuberungen zu überstehen, was gewiss nicht einfach gewesen war. Schließlich hatte Pau die Genehmigung erhalten, das Land zu verlassen – was äußerst ungewöhnlich war – und seine persönlichen Güter mitzunehmen. Aber dennoch …
»Sie sprechen von Verrat«, stellte Ni klar.
»Ich spreche die Wahrheit, Herr Minister. Und ich nehme an, Sie haben den gleichen Verdacht.«
Ni zuckte mit den Schultern. »Dann irren Sie sich.«
»Warum stehen Sie dann noch immer hier? Warum hören Sie mir weiter zu?«
»Warum haben Sie mir dieses Video gezeigt?«
»Im Angesicht des Todes wird der, der zum Sterben bereit ist, überleben, während der, der zum Leben entschlossen ist, sterben wird. Dieser Gedanke wurde auch schon auf andere Weise ausgedrückt. Shang wu chou ti.«
Dieses Sprichwort kannte er.
Zieh die Leiter nach dem Aufstieg weg.
»Die üblichste Interpretation lautet, dass man den Feind in eine Falle locken und ihm dann den Ausweg abschneiden soll«, sagte Pau. »Unterschiedliche Gegner verlockt man auf unterschiedliche Weise. Die Habgierigen ködert man mit der Aussicht auf Gewinn. Die Arroganten mit einem Zeichen der Schwäche. Die geistig Festgefahrenen manipuliert man mit einer List. Zu welcher Sorte gehören Sie, Herr Minister?«
»Wer will mich denn in die Falle locken?«
»Karl Tang.«
»Eigentlich kommt es mir eher so vor, als versuchten Sie, mich zu manipulieren. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Warum haben Sie mir dieses Video gezeigt?«
»Um Ihnen klarzumachen, wie wenig Sie über das wissen, was um Sie herum vorgeht. Ihre selbstgerechte Kommission verbringt ihre Zeit damit, gegen korrupte Beamte und unehrliche Parteimitglieder vorzugehen. Sie jagen Gespenster, dabei sitzt Ihnen eine echte Gefahr im Nacken. Selbst Sie, die sich in Ihrer kleinen, sakrosankten Welt als das Gewissen der Partei fühlen, sind von Feinden umgeben. Eunuchen gibt es immer noch, Herr Minister.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich zu ihnen gehöre.«
8
Cassiopeia Vitt wurde in den Raum zurückbefördert, der seit zwei Tagen ihr Gefängnis war. Ihre Bluse war klatschnass, und ihre Lunge schmerzte von dem verzweifelten Versuch zu atmen.
Die Tür fiel krachend hinter ihr zu.
Erst jetzt war es ihr gestattet, ihre Augenbinde abzunehmen.
Ihre Zelle maß vielleicht zwei mal vier Meter und befand sich vermutlich unter einer Treppe, da die Decke steil abfiel. Der fensterlose Raum war nur durch eine funzelige Glühbirne erhellt, die niemals ausgeschaltet wurde. Es gab keine Möbel, sondern nur eine dünne Matratze, die auf dem Bretterboden lag. Wann immer man sie aus der Zelle geholt hatte, hatte sie versucht, so viel wie möglich über ihren Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Anscheinend war sie in einem Haus eingesperrt. Die Entfernung von ihrer Zelle zum Folterzimmer betrug nur einige wenige Schritte. Dazwischen lag ein Badezimmer, das sie zweimal aufgesucht hatte.
Aber wo befand sie sich?
Vor zwei Tagen war sie in Antwerpen gewesen.
Sie beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. Ihre Beine waren kraftlos, ihr Herz hämmerte. Sie zitterte.
Zweimal war sie auf das Brett gefesselt worden und hatte das Tuch übers Gesicht gelegt bekommen. Sie hatte geglaubt, alles aushalten zu können, aber das Gefühl, mit gefesselten Armen und Beinen zu ertrinken, während der Kopf sich tiefer befand als die Beine, erwies sich als zu viel für sie. Sie hatte einmal gelesen, dass psychische Misshandlung auch ohne Fausthiebe auskam.
Das glaubte sie ohne Weiteres.
Sie hatte Zweifel, ob sie eine solche Tortur ein weiteres Mal ertragen würde.
Gegen Ende der ersten Sitzung hatte sie Malone in die Sache hineingezogen, was ihr als ein kluger Schachzug erschienen war. In den Stunden zwischen ihrem Aufbruch von Pau Wen und ihrer Gefangennahme hätte sie ihm das Artefakt leicht übergeben können.
Offensichtlich hatte man ihr geglaubt.
Cotton war alles, was ihr noch blieb.
Sie konnte diesen Leuten nicht geben, was sie von ihr verlangten. Ob man sie töten würde? Das war nicht wahrscheinlich, zumindest nicht
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