Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
bis zur Kontaktaufnahme in Kopenhagen.
Und danach?
Sie wollte nicht über all die schlimmen Möglichkeiten nachdenken.
Letztlich war sie stolz darauf, dass sie nicht gebettelt oder gejammert und sich nicht selbst kompromittiert hatte.
Aber sie hatte Cotton in eine schwierige Lage gebracht.
Doch andererseits hatte er ihr schon viele Male gesagt, dass sie nicht zögern solle, wenn sie einmal Hilfe brauche. Und das war jetzt wohl der Fall.
Die letzten zwei Tage hatte sie sich alles Mögliche vorgestellt oder sich lautlos Geschichtsdaten aufgesagt, um sich abzulenken. Sie hatte Zahlen im Zehntausenderbereich multipliziert.
Aber auch der Gedanke an Malone hatte sie aufrecht gehalten.
Er war hochgewachsen und gutaussehend, hatte glänzend braunes Haar und lebhafte, grüne Augen. Früher hatte sie ihn für gefühlskalt gehalten, aber im vergangenen Jahr hatte sie begriffen, dass dies nicht stimmte. Sie hatten gemeinsam eine Menge durchgemacht.
Sie vertraute ihm.
Ihr Atem wurde ruhiger. Ihr Herz raste nicht mehr so.
Ihre Nerven beruhigten sich.
Sie stand auf und rieb sich die wunden Handgelenke.
Inzwischen ging sie auf die vierzig zu, und wieder mal steckte sie in Schwierigkeiten. Egal, so war das Leben einfach viel interessanter. Ihr Projekt, eine französische Burg des vierzehnten Jahrhunderts nur mit Werkzeug und Materialien nachzubauen, die es vor siebenhundert Jahren schon gegeben hatte, machte Fortschritte. Ihr Baustellenleiter hatte ihr vor ein paar Wochen berichtet, dass inzwischen zehn Prozent des Vorhabens abgeschlossen seien. Sie hatte vorgehabt, sich diesem Unternehmen intensiver zu widmen, aber dann war ein Anruf aus China gekommen.
»Sie haben ihn entführt, Cassiopeia. Er ist weg.«
Lev Sokolov war kein Mann, der zur Panik neigte. Tatsächlich war er ein intelligenter und rational denkender Mensch. Er war in der alten Sowjetunion zur Welt gekommen und aufgewachsen. Dann war ihm die Flucht geglückt, und er war ausgerechnet nach China entkommen.
»Mein Sohn hatte seine Großmutter zu ihrem Gemüsestand auf dem Markt begleitet und spielte dort«, erzählte Sokolov mit brüchiger Stimme auf Russisch. »Einer der Nachbarn seiner Großmutter kam vorbei und bot an, ihn nach Hause zu bringen, da er ohnehin auf dem Heimweg sei. Die Großmutter war einverstanden. Das ist jetzt acht Wochen her.«
»Was ist mit diesem Nachbarn?«
»Wir sind sofort zu ihm nach Hause gegangen. Er sagte, er habe meinen Sohn bis zu unserem Wohnblock gebracht und ihm dort Geld für Süßigkeiten gegeben. Der Drecksack lügt. Er hat ihn verkauft, Cassiopeia. Das weiß ich. Es gibt keine andere Erklärung.«
»Was hat die Polizei getan?«
»Die Regierung will nicht über Kindesraub reden. Nach ihrer Ansicht sind das vereinzelte Fälle, und das Problem ist unter Kontrolle. Das stimmt aber nicht. Jeden Tag verschwinden hier zweihundert Kinder.«
»Das kann unmöglich wahr sein.«
»Doch, das ist es. Und jetzt ist mein Sohn einer von ihnen.«
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.
»Unsere Möglichkeiten sind begrenzt«, sagte Sokolov mit verzweifelter Stimme. »Die Medien stehen der Regierung zu nahe, um darüber zu berichten. Die Polizei spricht nicht mit uns. Selbst Eltern-Selbsthilfegruppen, die Betroffene wie wir gebildet haben, müssen sich heimlich treffen. Wir haben Suchplakate aufgehängt, aber die Polizei hat uns mit Verhaftung gedroht, falls wir nicht aufhören. Keiner will an ein Problem erinnert werden, das es offiziell gar nicht gibt.« Er stockte. »Meine Frau ist zusammengebrochen. Sie ist kaum noch bei Sinnen. Ich kann mich an niemand anderen wenden. Ich brauche deine Hilfe.«
Das war eine Bitte, der sie sich nicht verweigern konnte.
Vor fünf Jahren hatte Sokolov ihr das Leben gerettet, und sie war ihm etwas schuldig.
Also hatte sie sich ein Touristenvisum für dreißig Tage besorgt, ein Flugticket nach Peking bezahlt und war nach China geflogen.
Sie legte sich bäuchlings auf die Matratze und starrte auf die unverputzte Gipswand. Mittlerweile kannte sie jeden Riss und jede Spalte. In einer Ecke hockte eine Spinne, und gestern hatte sie gesehen, wie sie eine Fliege gefangen hatte.
Diese Fliege hatte ihr Mitgefühl.
Schwer zu sagen, wie lange es dauern würde, bis man sie das nächste Mal vorführte. Das hing alles von Cotton ab.
Sie hatte es satt, eingesperrt zu sein, aber das Schicksal eines vierjährigen Jungen hing von ihr ab. Und damit auch das Schicksal von Lev Sokolov.
Und sie hatte es
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