Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
seine Familie sorgte. Ein Mann, der immer und überall sein Bestes gab. Und doch zerfiel alles. An einem Tag Glück und Hoffnung. Am nächsten trügerischer Treibsand und Risse in der Wand, die einmal so fest schien. Seit dem Streit am Morgen hatte er nicht mehr mit Pernille gesprochen. Wahrscheinlich saß sie noch im Schlafzimmer, weinend vor Zorn und Kummer. Vagn vertrat ihn, erledigte die Aufträge, verteilte die Arbeit.
Vagn hielt sie auf Kurs. Hielt manchmal ihn auf Kurs, was Pernille nicht wusste. Der kleine Vagn mit seiner albernen Halskette. Der arme Vagn, der so viel bei ihnen herumhing, weil er nichts anderes hatte. Vor drei Jahren hatte er Geldprobleme gehabt, und Birk Larsen hatte ihn gute sechs Monate lang im Lager schlafen lassen. Vagn war dankbar und verlegen gewesen. Kreuzte mit Pizza auf, die sie nicht wollten. Begann die Jungen zu verwöhnen, machte Nanna Geschenke, die sie nicht brauchte.
Onkel Vagn. Keine Blutsverwandtschaft. Aber Liebe? Wenn alle gingen, war Vagn Skærbæk als Letzter noch da. Eine Art Einsiedler, der außer den Birk Larsens und seinem kranken Onkel niemanden hatte, um den er sich Gedanken machen musste. Ein Versager mehr oder weniger. Der sonst nirgendwohin konnte. Birk Larsen griff nach der Dose, trank sie aus, warf sie aus dem Fenster. Dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Er gehörte zu seinem alten Ich, dem misstrauischen, rachsüchtigen Schläger, der noch immer grollend in ihm lauerte und herauswollte. An dem Abend mit dem Lehrer hatte er seine Chance gehabt. Wäre Vagn Skærbæk nicht gewesen, er hätte sie genutzt. Dann wäre Kemal jetzt tot. Und er, Theis Birk Larsen, würde für Jahre im Gefängnis sitzen. Der alte Theis schlummerte noch in ihm, und er redete im Schlaf. Er wusste nichts von Großmut, von Verzeihen, von Trauer. Er kannte nur Wut und Gewalt und das glühende Verlangen, beides zu unterdrücken. Der alte Theis würde begraben bleiben. Musste begraben bleiben. Pernille zuliebe. Den Jungs zuliebe. Und ihm selbst zuliebe. Auch damals, in der schlimmen Zeit, als Dinge passiert waren, an die er sich nicht gern erinnerte, hatte Birk Larsen um das Gespenst in seinem Kopf gewusst, das sich Gewissen nannte und dort sein Unwesen trieb. Hatte gewusst, dass es nachts auf ihn einhackte, an ihm kratzte, an ihm nagte. Und das tat es noch immer. Er betrachtete die letzten drei Bierdosen, fluchte, warf sie nach hinten, dann wendete er und fuhr zurück in die Innenstadt, zum Krankenhaus.
Der neue Anbau des Rigshospitalet war ganz aus Glas. Seine durchsichtigen Wände verstärkten das fahle Novemberlicht, sodass es schien, als sei draußen ein Sommertag. Gleißend, unerbittlich. Birk Larsen wartete, während die Frau an der Pforte telefonierte. Beobachtete ihr Gesicht. Wusste, dass sie ihn erkannt hatte.
»Er erwartet Sie«, sagte sie schließlich. Sie war Ausländerin. Naher Osten. Libanon. Türkei. Er hatte keine Ahnung.
»Weiß der Himmel, warum«, fügte sie hinzu.
Kemal saß im Rollstuhl in einem Aufenthaltsraum eine Treppe tiefer. Sein Gesicht war voller Blutergüsse, Wunden und Pflaster. Sein rechtes Bein war eingegipst und waagerecht ausgestreckt. Auch am linken Arm hatte er einen Gips.
»Wie geht’s Ihnen?«, fragte Theis Birk Larsen. Etwas anderes wusste er nicht zu sagen. Der Lehrer sah ihn ausdruckslos an. Schmerzen schien er nicht zu haben.
»Ich werde morgen entlassen.«
Ein langes Schweigen.
»Kann ich Ihnen was holen? Einen Kaffee? Ein Sandwich?«
Kemal schaute aus dem Fenster, sah dann wieder Birk Larsen an, verneinte.
»Was Neues in dem Fall?«, fragte er.
Birk Larsen schüttelte den Kopf.
»Ich glaub nicht. Die würden’s mir auch nicht sagen. Noch nicht.«
Lehrer hatten ihn noch nie beeindruckt. Sie waren ihm zu eingebildet. Als wüssten sie etwas, das sie vor allen anderen geheim hielten. Aber das war nicht der Fall. Sie hatten keine Ahnung, wie es war, im alten Vesterbro aufzuwachsen, zwischen Huren, Drogendealern und Schnapsleichen zur Schule zu gehen. Ums Überleben zu kämpfen. Sich hochzuarbeiten. Kämpfen war das, was er am besten konnte, und er war stark genug dafür. Später, so glaubte er, hatte er gelernt, auf andere, subtilere Weise zu kämpfen. Pernille zuliebe. Nanna und den Jungen zuliebe. Doch er hatte sich geirrt. Er war dumm. Kemal beobachtete ihn, regte sich nicht.
»Ich hab gehört, Sie zeigen mich nicht an.«
Der Lehrer schwieg.
»Warum nicht?«
»Weil ich Sie angelogen habe. Nanna war an dem Abend bei mir. Nur kurz,
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