Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
nicht«, sagte Brix achselzuckend. »Wie denn auch?«
Sein Telefon klingelte. Er sah aufs Display.
»Ich muss mit meiner Frau sprechen. Wir wollen heute Abend ausgehen.«
Das Telefon klingelte erneut. Bülow rührte sich nicht vom Fleck.
»Mögen Sie Ballett?«, fragte Brix.
Bülow fluchte und entfernte sich durch den dunklen Flur. Als er außer Hörweite war, meldete sich Brix.
»In dem Inhaltsverzeichnis steht, dass ein Fotoalbum in der Kiste war«, sagte Lund.
»Was treiben Sie denn?«
»Mette Hauge war ein Partygirl. Hat gedealt. Hatte Verbindungen zu Gangs. Vielleicht in Christiania. Vielleicht auch nicht. Einer von so einer Gang war ihr Freund. Vielleicht auch nicht nur der eine.«
»Lund, Sie müssen auf der Stelle herkommen.«
»Ich muss das Fotoalbum durchsehen.«
»Das haben wir schon getan. Moment … ich hab’s hier.«
Er ging in sein Büro zurück, durchsuchte einen Teil des Materials, das sie aus dem Lagerhaus geholt hatten. Das Album hatte einen blauen Einband. Schulfotos. Studentenbilder. Ausflüge ans Meer. Partys.
»Hier ist nichts drin.«
»Es muss entweder am Ende oder am Anfang sein, Brix. So legen die Leute Fotos ab. Suchen Sie nach den Bildern kurz vor Mettes Verschwinden.«
»Wir haben Nannas Pass in Leon Freverts Hof gefunden.«
»Wo?«
»In einer Mülltonne.«
»Das ergibt keinen Sinn. Der hätte ihn vor zwei Wochen beseitigt. Der wäre nicht mehr in der Mülltonne gewesen. Sie müssen dieses Foto finden, Brix.«
»Vielleicht hat er’s rausgenommen. Frevert hatte ihren Pass. Er war der Letzte, der Nanna Birk Larsen lebend gesehen hat. Fünf Minuten nachdem er sie abgesetzt hatte, hat er eine Nachricht auf Birk Larsens Telefon gesprochen. Vagn Skærbæk hat uns bestätigt, dass er sich krankgemeldet hat.«
Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.
»Das müssen Sie mir noch mal genauer erklären …«
»Verdammt, Lund, Sie kommen jetzt sofort her! Lund! Lund! «
Pernille Birk Larsen wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Antons Geburtstag. Der letzte, den sie in der engen kleinen Wohnung über der Garage feiern würden. In der jetzt das Chaos herrschte. Überall gepackte Koffer und Taschen, fertig für den Umzug. Anton war auf einer Feier mit einigen seiner Schulkameraden. Pernille sollte ihn abholen. Nicht über den Pass reden. Nur über Geburtstage reden.
»Du musst dich um den Braten kümmern, Theis«, sagte sie, während sie die Spüle putzte. »Und staubsaugen.«
Er machte Nutella-Brote für die Kinder.
»Sonst noch was?«
»Nein.« Sie suchte seinen Blick. Er war guter Laune. »Das wird reichen.«
»In fünf Minuten ist sowieso alles wieder ein einziges Durcheinander.«
Er klatschte den klebrigen Brei auf zwei Scheiben Brot.
»So ist nun mal das Familienleben.«
»Ich möchte die Wohnung sauber haben.«
Er rieb sich die Stirn. Sie sah ihn an.
»Hauptsache, die Jungs finden es lustig …«
Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Unterdrückte ein Kichern.
»Aha. Bin ich jetzt schon eine Witzfigur?«
Pernille ging zu ihm hin und fuhr ihm mit dem Finger über die Stirn. Wischte die Nutella-Spuren dort weg.
Zeigte ihm ihren Finger.
»Ach, Shit.«
Aber er lachte.
Taschen bedeckten den Küchentisch mit seinen lackierten Bildern und eingefrorenen Erinnerungen. Die würde sie nicht mitnehmen. Der Tisch konnte eingelagert werden. Vielleicht würde sie sich ihn ab und zu ansehen. Irgendwann würde sie die Vergangenheit hinter sich lassen müssen. Das wusste sie jetzt.
Er schlang den Arm um sie, zog sie an sich, küsste sie auf die Wange. Schwarzes Leder und Schweiß, die rauhe Berührung seines Bartes. Sie sah sich noch immer in dem Raum um: die Wände, an denen einmal Fotos gehangen hatten, die fehlenden Pflanzen, die leere helle Fläche der Korktafel. Pernille Birk Larsen merkte, dass sie weinte, und wusste nicht, warum. Aber es waren keine schlimmen Tränen, und sie versiegten auch gleich wieder. Der grausame enge Kreis, der sich geöffnet hatte, als Nanna starb, begann sich langsam zu schließen, Stunde für Stunde, Tag für Tag. Er würde immer da sein. Aber mit der Zeit würde er zu einem Teil von ihnen werden, mit dem sie sich abfinden würden wie mit einer vertrauten Narbe, stets im Bewusstsein, doch nie mehr Ursache ständigen Leids.
»Wirst du die Wohnung vermissen?«, flüsterte er ihr mit seiner tiefen Stimme ins Ohr.
»Nur das Glück. Und das können wir wiederbekommen.«
Er wischte ihr mit seinen dicken, vernarbten Fingern die
Weitere Kostenlose Bücher