Das Verbrechen von Orcival
postierte sich also auf der Freitreppe zum Hof, die linke Hand in Brusthöhe zwischen die Knöpfe der Weste geschoben, mit der rechten gestikulierend, ganz so in dieser stolzen statuarischen Haltung, die man von Abbildungen klassischer Redner her kennt. Seine Worte drangen gedämpft bis in den Speisesaal. Und je nachdem, ob er sich nach links oder rechts drehte, war seine Stimme klarer oder schwächer zu vernehmen oder verlor sich gar im Raum. Er sagte:
»Meine lieben Mitbürger!
Ein unerhörtes Verbrechen in den Annalen Orcivals hat unsere ruhige und ehrenwerte Gemeinschaft heimgesucht. Ich teile euern Schmerz. Ich verstehe ihn und sehe hierin den Grund für euer hehres Mitgefühl und eure sittliche Entrüstung. Genauso wie ihr, meine Freunde, ja mehr als ihr, liebte und schätzte ich diesen edlen Comte de Trémorel und seine tugendsame Gattin; sowohl er als auch sie waren der gute Geist dieses ehrsamen Landstriches. Wir werden sie gemeinsam beweinen...«
»Ich versichere Ihnen«, sagte Doktor Gendron zu Vater Plantat, »daà die Symptome, von denen Sie sprechen, bei Brustfellentzündungen nicht so selten sind. Man meint, die Krankheit besiegt zu haben, und hütet sich vor einer Pleurapunktion, man hat sich geirrt. Aus dem akuten Zustand geht die Entzündung in einen chronischen Zustand über und führt zur Brustfellvereiterung und Tuberkulose.«
»Aber nichts rechtfertigt eine Neugier«, so fuhr der Bürgermeister fort, »die durch unangebrachte und aufruhrstiftende Bekundungen die Arbeit der Justizorgane beeinträchtigt und in jedem Fall Seine Majestät, das Gesetz, beleidigt. Warum diese unnormale Zusammenrottung, warum dieses Geschrei, warum diese Gerüchte, dieses Gezischel, diese vorgefaÃten Verdächtigungen...?«
»Er wurde zwei-, dreimal untersucht, doch jedesmal ohne greifbare Resultate und eindeutige Diagnostik«, sagte Vater Plantat. »Sauvresy klagte über untypische und nicht zu lokalisierende Schmerzen, daà er, verzeihen Sie mir den Ausdruck, die Vermutungen der erfahrensten Ãrzte in Frage stellte.«
»War es nicht Doktor R. aus Paris, der ihn später behandelt hat?«
»Genau. Er kam jeden Tag und blieb oft auch über Nacht im SchloÃ. Manchmal bin ich ihm begegnet, wie er voller Sorgen die HauptstraÃe des Ortes entlangschritt. Er ging zu unserem Apotheker, um selbst über die Zubereitung des Rezeptes zu wachen.«
»... bemüht euch um MäÃigung!« schrie Monsieur Courtois. »Bemüht euch darum, eure gerechte Entrüstung zu mäÃigen, beruhigt euch, zeigt Würde!«
»Sicher«, redete Doktor Gendron weiter, »euer Apotheker ist ein intelligenter Bursche, aber ihr habt sogar in Orcival einen, der ihm den Rang abläuft. Einer, der mit Heilkräutern handelt und es verstanden hat, daraus Geld zu machen, ein gewisser Robelot...«
»Robelot der Quacksalber?«
»Genau. Ich habe ihn sogar in Verdacht, selber Kranke zu heilen und hinter verschlossenen Türen Arzneimittel herzustellen. Er ist sehr intelligent. Ich weià es, weil ich ihn selbst ausgebildet habe. Er war fünf Jahre lang mein Gehilfe im Laboratorium und auch jetzt noch, wenn ich ein schwieriges Problem habe...«
Der Doktor hielt inne, so überrascht war er über das verzerrte Gesicht des ansonsten unbewegten Vater Plantat. »Hallo, lieber Freund, was haben Sie denn?« fragte er. »Ist Ihnen nicht wohl?«
Der Untersuchungsrichter blickte von seinen Papieren hoch.
»Tatsächlich«, bemerkte er, »der Herr Friedensrichter ist ja so blaà geworden...«
Aber schon hatte Vater Plantat wieder sein gewohntes Aussehen.
»Es ist nichts«, antwortete er, »absolut nichts. Nur mein verfluchter Magen, wenn ich nicht zu den gewohnten Zeiten esse...«
»Geht also wieder in eure friedlichen Behausungen!« hörte man laut und deutlich Monsieur Courtois sagen, der offensichtlich am Schluà seiner Rede angekommen war. »Kehrt zu eurer Beschäftigung zurück, nehmt eure Arbeiten wieder auf. Und seid ohne Furcht, das Gesetz schützt euch. Schon hat die Gerechtigkeit ihr Werk begonnen, zwei Urheber des schändlichen Frevels sind in ihrer Gewalt, und wir sind ihren Komplizen schon auf der Spur.«
»Von allen zur Zeit im Schloà tätigen Dienstboten hat nicht einer mehr Sauvresy gekannt«, bemerkte Vater Plantat. »Nach und nach hat man die
Weitere Kostenlose Bücher