Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
Vom Netzwerk:
bißchen Intelligenz zu bescheinigen. Nachdem man es lange genug angeschaut hatte, hielt man unwillkürlich nach einem Kropf Ausschau.
    Die Hausierer, die dreißig Jahre lang Zwirn und Nadeln verkauft haben und sich dann auf ihre achtzehnhundert Pfund Rente zurückziehen, müssen genauso nichtssagend ausschauen.
    Seine Kleidung war genauso unauffällig wie seine Person. Sein Überrock sah aus wie alle Überröcke, seine Hose wie alle Hosen. Eine Uhrkette, die genauso bläßlich wie sein Backenbart wirkte, hielt die dicke silberne Taschenuhr, die seine linke Westentasche ausbeulte.
    Als der Untersuchungsrichter den Mann lange genug gemustert hatte, zuckte er mit den Schultern.
    Â»Endlich«, sagte Monsieur Domini – und dieses »endlich« verriet seine geheimsten Gedanken – »können wir, da Sie nun hier sind, Ihnen erklären, worum es sich handelt.«
    Â»Oh, völlig unnütz!« erklärte Monsieur Lecoq mit einem über- aus selbstgefälligen Gesichtsausdruck. »Völlig unnütz!«
    Â»Aber es ist doch unerläßlich, daß Sie wissen müssen...«
    Â»Was? Was der Herr Untersuchungsrichter weiß?« unterbrach ihn der Beamte der Sûreté. »Das weiß ich längst. Wir reden von Mord und haben Diebstahl als Motiv, und darum dreht sich alles. Dann haben wir den Einbruch, das gewaltsame Aufbrechen der Schlösser, die verwüsteten Zimmer. Der Leichnam der Comtesse wurde gefunden, aber der des Comte nicht. Was noch? Das Tönnchen ist eingesperrt, kein ehrbares Bürgerlein, jedenfalls wird ihm das Gefängnis nicht schaden. Guespin ist sternhagelvoll nach Hause gekommen. Hah! Er ist höchst verdächtig, dieser Guespin – seine Vergangenheit ist ein bißchen trübe und seine Geschichte etwas lasch: man weiß nicht, wo er die Nacht verbracht hat, er weigert sich zu antworten, er hat kein Alibi... ernsthaft, sehr ernsthaft.«
    Vater Plantat musterte den sanften Agenten mit sichtlichem Vergnügen. Die anderen verbargen ihre Überraschung mitnichten.
    Â»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte der Untersuchungsrichter.
    Â»Na ja!« erwiderte Monsieur Lecoq, »jedermann ein bißchen.«
    Â»Aber wo?«
    Â»Hier. Ich bin seit etwa zwei Stunden hier und habe auch die Rede des Herrn Bürgermeisters gehört.«
    Â»Wie«, meinte Monsieur Domini mißbilligend, »Sie wußten nicht, daß ich Sie erwartete?«
    Â»Pardon«, entgegnete der Beamte der Sûreté, »ich hoffe jedoch, der Herr Richter wird dennoch mit mir einer Meinung sein, daß ein Studieren des Schauplatzes unerläßlich ist, man muß sich umschauen, seine Batterien in Stellung bringen. Ich habe mir das zunutze gemacht, um mich umzuhören.«
    Â»All das rechtfertigt kaum Ihre Verspätung«, sagte Monsieur Domini streng.
    Â»Der Herr Richter braucht sich nur in der Rue de Jérusalem zu erkundigen«, erwiderte er, »ob ich mein Metier verstehe oder nicht. Um eine wirksame Untersuchung durchzuführen ist es sehr wichtig, nicht erkannt zu werden. Die Polizei – es ist dumm, aber es ist nun einmal so – erfreut sich nicht gerade großer Beliebtheit. Jetzt, wo man weiß, daß ich hier bin und weshalb ich hier bin, kann ich die Leute fragen, was ich will, sie werden mir nichts erzählen, oder sie werden mir nicht alles erzählen, man wird mir mißtrauen, mir mit Schweigen begegnen.«
    Â»Das klingt einleuchtend«, kam Vater Plantat dem Beamten der Sûreté zu Hilfe.
    Â»Also«, fuhr Monsieur Lecoq fort, »als man mir sagte, da unten in der Provinz, habe ich mich als Provinzler ausstaffiert. Ich komme hier an, und jeder, der mich sieht, sagt sich: Aha, ein neugieriger, aber kein böswilliger Fremder. Nun, ich mische mich unter die Menge, mache mich bekannt, höre, sage was, lasse was sagen! Ich frage, und man antwortet mir bereitwillig auf meine Fragen; ich mache mich sachkundig, man vertraut mir Meinungen an, man nimmt kein Blatt vor den Mund. Charmante Leute hier in Orcival, ich habe mich schon mit mehreren angefreundet und bin für heute abend mehrmals zum Essen eingeladen worden.«
    Monsieur Domini mag die Polizei nicht und macht auch kein Hehl daraus. Er erträgt die Mitarbeit mit ihr mehr, als daß er sie schätzt. Sie ist nun einmal notwendig. In seinem Rechtsempfinden verurteilt er die Mittel, die zu ergreifen sie manchmal gezwungen ist, obwohl er die

Weitere Kostenlose Bücher