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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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alten entlassen.«
    Â»Oftmals ist es doch so«, erwiderte Doktor Gendron, »daß einen der Anblick der alten Dienstboten zu sehr an das Unglück erinnert, so wird es auch Monsieur de Trémorel ergangen sein...«
    Er wurde durch den Eintritt des Bürgermeisters unterbrochen, der mit glänzenden Augen, gerötetem Gesicht und sich die schweißnasse Stirn abtrocknend zur Tür hereinkam.
    Â»Ich habe diesen Leuten klargemacht, wie unschicklich ihre Neugier ist«, sagte er, »und alle haben sich verzogen. Wie mir der Brigadier sagte, wollten sie sich an Philippe Bertaud vergreifen; das Rechtsgefühl des Volkes läßt sich eben nicht beirren...«
    Er drehte sich um, da er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und befand sich einem Mann gegenüber, dessen Gesicht man nicht erkennen konnte, so tief verbeugte er sich, wobei er seinen Hut gegen die Brust drückte.
    Â»Was wollen Sie?« herrschte ihn Monsieur Courtois an. »Mit welchem Recht wagen Sie es, hier einzudringen? Wer sind Sie?«
    Der Mann richtete sich auf.
    Â»Ich bin Monsieur Lecoq«, antwortete er mit strahlendem Lächeln.
    Und da er bemerkte, daß sein Name niemandem etwas sagte, fügte er hinzu:
    Â»Monsieur Lecoq von der Sûreté, auf telegraphische Bitte wegen der anstehenden Affaire von der Präfektur entsandt.«
    Diese Erklärung überraschte sichtlich alle Anwesenden, selbst den Untersuchungsrichter.
    Selbstverständlich hat auch in Frankreich jeder Stand sein besonderes Äußeres, so daß diese Insignien auf den ersten Blick die entsprechende Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe verraten, und wenn Seine Majestät, die öffentliche Meinung, einen Typus gewohnt ist, so ist sie nicht gewillt, einen anderen anzuerkennen. Was ist zum Beispiel ein Arzt? Natürlich ein ernster, ganz in Schwarz gekleideter Mann mit weißer Krawatte. Ein dicker Herr, dem die Uhrkette über dem Bauch baumelt, kann nur ein Bankier sein. Und jeder weiß nur zu gut, daß der Künstler ein Luftikus ist, der einen gekniffenen Hut und ein Samtjackett mit großen Manschetten trägt.
    In Anbetracht dessen hat der Beamte aus der Rue de Jérusalem einen tückischen Blick zu haben und etwas Undurchsichtiges in seinem ganzen Gehabe. Der einfältigste Krämer ist davon überzeugt, einen Polizeiagenten auf zwanzig Schritt Entfernung zu erkennen: ein großer schnurrbärtiger Mann mit glänzendem Filzhut, den Hals in den Pelzkragen seines schwarzen, abgetragenen, schmutzigen und ungebügelten Oberrockes vergraben. So hat der Typ zu sein.
    Nun, als Monsieur Lecoq den Speisesaal des Schlosses von Valfeuillu betrat, sah er nach allem anderen aus, nur nicht nach einem Polizeiagenten.
    Hierzu muß man sagen, daß Monsieur Lecoq das Aussehen hat, das er zu haben beliebt. Seine Freunde behaupten, er habe sein richtiges Aussehen nur, wenn er allein zu Hause am Kamin sitze; aber erwiesen ist das nicht.
    Sicher hingegen ist, daß Monsieur Lecoqs Maske seltsamen Metamorphosen unterliegt; er schafft sozusagen sein Aussehen je nach Belieben so, wie der Bildhauer sein Modellierwachs nach Belieben knetet.
    Er wechselt alles, selbst den Blick, was nicht einmal seinem Meister und Rivalen Gévrol gelang.
    Â»Ach so«, meinte der Untersuchungsrichter offensichtlich enttäuscht, »Sie sind der Beamte, den mir der Polizeipräfekt für die erforderliche Untersuchung schickt.«
    Â»Genau, der bin ich, Monsieur«, antwortete Lecoq, »ganz zu Ihren Diensten.«
    Nein, er bestach nicht gerade durch sein Äußeres, der Abgesandte des Herrn Polizeipräfekten, und die Enttäuschung von Monsieur Domini war entschuldbar.
    Monsieur Lecoq hatte sich an diesem Tag zu hübschen, sorgfältig gekämmten, mit einem rührenden Scheitel geteilten Haaren von undefinierbarer Farbe entschlossen, die man gemeinhin als »Pariser Blond« zu bezeichnen pflegt. Ein Backenbart von derselben Farbe umrahmte ein blasses, gedunsenes Gesicht. Biedermännisch starrten ein Paar Augen aus rotgeränderten Höhlen; ein naives Lächeln umspielte die dicklichen Lippen, die, wenn sie sich öffneten, eine Reihe langer gelber Zähne enthüllten.
    Sein Gesichtsausdruck war nicht eindeutig festzulegen. Es war zu beinahe gleichen Teilen eine Mischung aus Schüchternheit, Genügsamkeit, Zufriedenheit. Unmöglich, dem Träger eines solchen Gesichts auch nur das geringste

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