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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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heute handle ich vor Ihnen, ohne mir allzu großen Zwang anzutun. Ich lasse Sie an der Entwicklung meines Verdachts teilhaben. Man gelangt nicht mit einem gewaltigen Satz bis zur Wahrheit, dahin gelangt man durch eine Folge recht komplizierter Berechnungen und dank einer Reihe aufeinander bauender Induktionen und Deduktionen. Nun, im Augenblick ist meine Logik auf dem Holzwege.«
    Â»Wie das?« fragte Vater Plantat.
    Â»Oh, das ist ganz einfach, Herr Friedensrichter. Ich glaubte, die Mörder durchschaut, ihr Vorgehen begriffen zu haben, was am Anfang ganz wichtig ist, denn dadurch habe ich es nicht länger mit erfundenen Gegnern zu tun. Sind sie beschränkt, sind sie außerordentlich gerissen? Ich bin dabei, mich das zu fragen. Der Trick mit dem Bett und der Uhr hat mir genauso, wie ich es vermutet hatte, die Grenzen ihrer Fähigkeiten offenbart. Indem ich von dem Bekannten ausging und auf Unbekanntes schloß, gelangte ich recht rasch dahinter, was unsere Aufmerksamkeit erregen sollte und was nicht. Mein Ausgangspunkt war daraufhin, von den offensichtlichen Fakten auf das Gegenteil zu schließen. Ich sagte mir: Man hat in der zweiten Etage eine Axt gefunden, also haben die Mörder sie absichtlich dort vergessen. Sie haben auf dem Tisch im Speisezimmer fünf Gläser zurückgelassen, also waren sie entweder mehr oder weniger als fünf, aber keinesfalls fünf. Auf dem Tisch standen die Überreste einer Mahlzeit, aber sie werden weder gegessen noch getrunken haben. Der Leichnam der Comtesse wurde am Flußufer gefunden, also hat man ihn mit einer bestimmten Absicht dorthin gebracht. Man hat in der Hand des Opfers einen Stofffetzen gefunden, also ist er ihr von den Mördern selbst in die Hand gedrückt worden. Der Körper von Madame de Trémorel ist voller Dolchstiche, also ist sie durch einen Stich oder Schlag getötet worden...«
    Â»Bravo, jawohl, bravo«, rief Vater Plantat in offensichtlichem Entzücken.
    Â»Eben nicht bravo«, erwiderte Monsieur Lecoq, »denn hier zerreißt mein Gewebe, ich stoße auf eine Schwachstelle. Denn wenn meine Schlußfolgerungen richtig gewesen wären, dann hätte diese Axt wie zufällig auf der Truhe liegen müssen.«
    Â»Doch! Das beweist nichts!« entgegnete Vater Plantat. »Denn diese Besonderheit stellt nicht Ihre Schlußfolgerungen insgesamt in Frage. Ganz gewiß haben die Mörder die Absicht gehabt, so zu handeln, wie Sie eben gesagt haben. Ein Zwischenfall, den sie nicht voraussehen konnten, hat sie dabei gestört.«
    Â»Vielleicht«, stimmte ihm der Polizeiagent halblaut bei, »vielleicht haben Sie recht. Aber mir ist da noch etwas anderes aufgefallen...«
    Â»Was denn?«
    Â»Nichts Bestimmtes... im Augenblick jedenfalls noch nicht. Ich muß mir unbedingt das Speisezimmer und den Garten ansehen.«
    Monsieur Lecoq und der alte Friedensrichter gingen schnell ins Speisezimmer, und Vater Plantat zeigte dem Beamten die Flaschen und Gläser, die man inzwischen beiseite geräumt hatte.
    Der Mann von der Präfektur nahm die Gläser nacheinander in die Hand, hielt sie gegen das Licht und studierte genau die Spuren auf dem Kristall.
    Â»Man hat aus keinem dieser Gläser getrunken«, erklärte er dann bestimmt.
    Â»Was! Nicht aus einem einzigen?«
    Der Beamte der Sûreté blickte den Friedensrichter mit einem jener Blicke an, die einem Verdächtigen das Blut in den Adern gerinnen lassen, und wiederholte, wobei er jedes seiner Worte betonte:
    Â»Nicht aus einem einzigen.«
    Vater Plantat sagte darauf nichts, sondern bewegte nur die Lippen auf eine Art, die besagen mochte: Du kommst schon noch selbst dahinter.
    Monsieur Lecoq lächelte, schritt dann zur Tür, öffnete sie und rief: »François!«
    Der Kammerdiener des verblichenen Comte de Trémorel lief herbei. Das Gesicht des braven Burschen war verzweifelt. Ein außergewöhnlicher Vorfall: dieser Dienstbote bedauerte, ja beweinte seinen Herrn.
    Â»Hör mal, mein Lieber«, sagte der Agent der Sûreté und duzte ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die für die Beamten der Rue Jérusalem charakteristisch war, »und gib dir Mühe, genau, präzise und kurz zu antworten.«
    Â»Ich höre, Monsieur.«
    Â»Hatte man im Schloß die Angewohnheit, Wein auf Vorrat aus dem Keller zu holen?«
    Â»Nein, Monsieur, ich selbst bin vor jeder Mahlzeit in den Keller

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