Das Verdammte Glueck
nach dem Rest vom Sommer, doch wie tief ich auch tastete, es war nichts mehr da, nur Staub und ein paar Erinnerungen. Mir schien, als könnte ich noch immer das rastlose Sirren der Grillen hören. Dabei war es schon längst still, der Sommer war vorbei, und der salzige Geruch des Meeres hing nicht mehr in der Luft.
Müllers Zeit
Paul hatte die Idee, nicht ich. Paule war’s.
Er sagte: «Wir stehlen dem Müller die Zeit.»
Was interessierte mich der Müller, der war mir egal; einer vom Versand, nicht jung, nicht alt, ein Langweiler.
«Was willst du mit seiner Zeit?», fragte ich, aber Paule grinste nur und zwinkerte mir zu.
«Los, komm, mach mit! Der Müller ist ein Idiot, der merkt es bestimmt nicht mal. Da ist es leicht.»
So war’s dann auch. Als Müller draußen stand auf dem Hof, irgendwas kontrollieren, nahmen wir ihm eine Stunde und versteckten sie in einer Decke in Pauls Spind. Die Sirene heulte, wir drückten unsere Stempelkarten wie immer, und Müller hatte nichts bemerkt. Der war zu dämlich. Seine Augenlider hingen ihm immer auf Halbmast, er sah aus, als würde er dösen. Der hatte gar nicht mitbekommen, dass wir ihm gerade eine Stunde gestohlen hatten, eine ganze Stunde.
So fing es an. Wir haben ihm mal 'ne Stunde, mal nur ein paar Minuten geklaut. Wir machten uns einen Sport daraus, eine Art Hobby. Es war ein Jux, nichts weiter. Wir nahmen uns seine Zeit und schleppten sie heim. Die Zeit wiegt nicht viel, ist was Leichtes, Flüchtiges, gerade bei so einem wie dem Müller. Wir hatten uns auch nie Gedanken darüber gemacht, was wir mit seiner Zeit eigentlich anfangen wollten. Aber weil Müller so dämlich war und nie etwas merkte, machten wir weiter, immer weiter. Da gab es irgendwie kein Halten. Bald genügten uns die Stunden nicht mehr, wir klauten ihm Tage, Wochen, Monate.
Wir lachten ... nein, wir pissten uns fast die Hosen voll, als wir Müller sagen hörten, er wüsste gar nicht, wo das Jahr schon wieder hin ist. Er hätte das Gefühl, die Zeit vergeht immer schneller. Der Kerl ahnte nichts, gar nichts, nicht mal einen Verdacht hatte der. Er glaubte doch tatsächlich, die Zeit würde unbemerkt verrinnen, einfach so. Dabei türmte sich Müllers Zeit bei uns zu Hause und wurde zum Problem. Pauls Olle kriegte einen Anfall nach dem anderen. Also mieteten wir eine Garage in der Vorstadt und stapelten dort die Zeit, die uns nicht gehörte und die der Müller nicht mal vermisste.
Ich fragte Paul, ob er glaubt, das ließe sich mal verkloppen ... für Kohle und so.
«Klar», sagte er und lachte.
Ich aber dachte: Wer will so was schon?
Wir machten weiter wie gehabt. Wahrscheinlich nur, weil es so verdammt einfach war. Wir trugen Müllers Zeit davon, graue Tage, leere Monate, fade Jahre. Mann, das war was, sag ich euch ...
Müller merkte nicht mal, wie das nächste Jahr für ihn schon zum übernächsten wurde. «Ach so?», sagte er und zog den Mund schief. Der bemerkte nicht mal, dass ihm plötzlich ganze Jahre fehlten. Keine Erinnerung, an nichts.
Für uns war es vor allem Schlepperei. Wir stopften die Zeit in die alte Garage draußen in der Vorstadt. Paul wollte Käufer suchen, doch Paul war ein Schwätzer. Statt Käufern fand er immer nur eine Kneipe, in die er sich setzen und ein Bierchen trinken konnte. Müller schöpfte erst Verdacht, als sie ihm eines Morgens in der Firma eine goldene Uhr hinhielten und sagten: «Danke, Müller, war 'ne schöne Zeit mit dir.» Sie schüttelten ihm die Hand, bis sie ihm wehtat, und lachten nur, als er misstrauisch fragte: «He, das kann nicht sein, so schnell vergeht die Zeit doch nicht! In Rente? Ihr verarscht mich. Ich muss noch 'n Weilchen ranklotzen, sag ich euch.»
«Nein, nein», sagte der Chef, lachte und klopfte ihm auf die Schulter. «Genug geklotzt.»
Im Klo sah Müller in den Spiegel und erschrak über das, was er da sah: graues Haar und mehr Falten im Gesicht als so ein Patent-Stadtplan.
«Das kann nicht sein», greinte er, «da hat mir jemand mein Leben gestohlen. Mein ganzes Leben.»
Wir lachten. War doch Blödsinn, was er da redete. Seine Zeit lag draußen in der Vorstadt, in einer Garage, nicht sein Leben, das hatte er ja noch. Was sollten wir auch damit, es interessierte uns nicht. Kann man nicht verscheuern, so ein Müller-Leben, man kriegt nichts dafür. Dachte ich mir wenigstens so.
Vinzenz, der den Stapler fährt, tröstete ihn. «Hast jetzt Rente», sagte er. «Ist doch was Schönes.»
«Ja, aber an all die vielen Jahre bis
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