Das verdrehte Leben der Amélie
Glück wurden wir nicht erwischt. Wir haben nämlich eine neue Technik. Wir warten, bis der Lehrer/die Lehrerin (je nach Fach) sich zur Tafel dreht. Madame Gagnon mit ihrer Ar-beits-me-tho-de verbringt viel Zeit damit, an die Tafel zu schreiben, umuns zu zeigen, was wir tun sollen. Zugegeben, mein Briefwechsel mit Kat im Matheunterricht wird nicht unbedingt dazu beitragen, meine Noten zu verbessern. Und die Massage, die meine Mutter mir spendieren möchte, auch nicht.
In meiner letzten Nachricht an Kat schrieb ich, dass ich nie das Weihnachtsgeschenk bekommen würde, das ich mir wünschte, wenn ich mich weiter mit Partys beschäftigte und ihr Nachrichten schickte. Sie schrieb zurück, sie schwöre, mich nicht mehr abzulenken, wenn ich ihr versprach, heute Abend mit auf die Party zu kommen. Ich sagte widerstrebend zu.
20:30
Wir sind vor einer halben Stunde auf die Party gekommen und Nicolas ist noch nicht da. Vielleicht arbeitet er noch in der Zoohandlung. Auf jeden Fall ist das nicht weiter schlimm, schließlich ist es nicht so, als wollte ich ihn unbedingt sehen. Kat und Ham sind in eine Ecke gegangen, um zu knutschen, daher fühle ich mich ein bisschen allein. Gerade läuft der Song I’ll be Home for Christmas , a cappella gesungen von N’Sync (glaube ich), und ich beschließe, mich auf einem gigantischen Sitzsack niederzulassen, der sehr gemütlich aussieht.
Während ich dort sitze, stelle ich fest, dass I’ll be Home for Christmas weder besonders traurig noch besonders anrührend ist. Viel weniger als die früheren Versionen des Lieds von irgendwelchen alten Herren. Man könnte sagen, dass N’Sync den Geist dieses Liedes nicht spüren.Sie wollen kein Gefühl rüberbringen, sondern nur zeigen, dass sie a cappella singen können. In dem Moment bin ich N’Sync dafür sehr dankbar, weil ihre gefühllose Interpretation dafür sorgt, dass bei mir auch keine Gefühle aufkommen, was mir auf einer Party ziemlich unangenehm wäre.
Nach dem Lied will ich von dem Sitzsack aufstehen, aber das ist unmöglich. Ich versuche, mich mit den Beinen hochzustemmen, aber ich stecke richtig fest. Gerade als ich denke, dass ich es schaffe, sehe ich Nicolas, der auf mich zukommt.
Ich möchte nicht auch noch durch unelegantes Gezappel den letzten Rest meiner Würde verlieren. Also breche ich den Versuch ab, aus dem Sitzsack herauszukommen, und überschlage die Beine auf eine weibliche Art (das bisschen Weiblichkeit, das einem noch bleibt, wenn man in einem Sitzsack feststeckt).
Er: »Du bist ja doch gekommen?«
Ich (während ich versuche, meine Pose beizubehalten, wie ein Topmodel): »Ja ...«
Er: »Cool!«
Ich: »Den Kätzchen geht’s gut?«
Er: »Wir haben gestern eins verkauft.«
Ich: »Aber nicht Sybil???«
Er: »Nein ... Rory, glaube ich.«
Ich: »Aha. Dein Onkel scheint ganz schön sauer zu sein, dass sein Papagei flucht.«
Er: »Mach dir deswegen keine Sorgen! Er liebt Bono. Er will ihn nicht verkaufen. Er tut so, als ob er sich ärgert,aber ich glaube, eigentlich findet er ihn witzig. Es ist ihm nur ein bisschen peinlich, wenn Familien kommen, um ein Haustier zu kaufen, und der Papagei plötzlich anfängt zu fluchen oder ›Die wär’n wir los!‹ zu rufen, wenn die Leute gehen.«
Ich: »Hahaha! Das stelle ich mir lustig vor!«
Er: »Willst du tanzen?«
Ich: »Äh ... nein. Ich bleibe lieber hier sitzen.«
Er: »Ah, o. k. Alles klar ... cool, dass du gekommen bist.«
Ich: »Ja, das hast du schon gesagt.«
Er: »Ich rede auch schon wie ein Papagei.«
Ich: »Stimmt, haha!«
21:45
Während ich zuschaue, wie Nicolas mit Marithé plaudert, gehe ich im Kopf noch einmal unser Gespräch durch und denke an all die intelligenten, schlagfertigen Sachen, die ich hätte sagen können. Ich verstehe einfach nicht, warum mein Gehirn so verzögert arbeitet. Das ist total unpraktisch! Ich hätte zu Hause bleiben und an meinem I.Q. arbeiten sollen, statt hierherzukommen und den Abend in einem Sitzsack zu verbringen!
21:47
Es ist wirklich ziemlich blöd, in einem Sitzsack gefangen zu sein. Mir ist heiß da drin, und wenn ich mich bewege, ertönen Pupsgeräusche! Zum Glück läuft Musik, wenigstens kann ich mit den Fingern den Takt schlagen.
21:51
Kat kommt zu mir. Endlich werde ich aus diesem Sitzsack befreit!
Kat: »Was hockst du da rum? Alle finden dich blöd und asozial!«
Ich: »Alle?«
Kat: »Ja! Vor allem ich!«
Ich: »Ich frage mich, wer von uns hier asozial ist: Ich – oder du, die den ganzen Abend nur
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