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Das vergessene Zepter

Das vergessene Zepter

Titel: Das vergessene Zepter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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wie ein ganzes Jahr. Ab und zu regnete es. Der Wind war barscher und herbstlicher geworden. Frühmorgens versanken einige Felder in Nebel. Seraikella schien dennoch nicht zu frieren, womöglich lief er auch bei Schneetreiben so gut wie unbekleidet herum. Die Ritterin hatte sich einen langen, dunkelroten Umhang umgewickelt, der ihre glitzernden Beinschienen nur um so mehr betonte.
    Am 8. Rauchmond befanden sie sich ziemlich genau südlich von Uderun, zwei Tagesreisen entfernt von der trutzigen Stadt im Norden, dem Laironsee im Süden und den ersten Wildbartausläufern im Osten. Am Morgen, als sie gerade kaltes Fleisch vom Vorabend verdrückten und eine Art Kräutertee schlürften, den Seraikella für sie zubereitet hatte, trat ein seltsamer Mann in ihr Lager. Das Pferd und die Maultiere scheuten und verdrehten die Augen, und sie wußten sofort, daß ihnen Ärger bevorstand, obwohl der Fremde völlig unbewaffnet war. Er war etwa vierzig Jahre alt, wirkte ungepflegt und blaß.
    Â»Habt ihr mich gerufen?« sagte er mit hohler Stimme. »Ich verstehe das nicht. Wie kann das sein? Ich nahm mir das Leben, müßt ihr wissen!« Er hielt ihnen wie anklagend seine Handgelenke entgegen. Die Pulsadern waren zerschnitten, das Fleisch klaffte widerwärtig auf, aber kein Blut floß mehr aus diesem Körper.
    Â»Das Zepter hat dich gerufen in der Nacht«, sagte Eljazokad, der in den zwanzig Tagen als Zepterträger fast ebenso bleich geworden war wie der Blutleere. »Was will es von dir?«
    Â»Ich … weiß … es nicht. Laß es mich anfassen, dann werde ich es wissen.«
    Â»Das kann ich nicht zulassen.«
    Â»Was soll das alles bedeuten?« fragte die Ritterin dazwischen. »Ist dieser Mann tot? Ist es das, worüber ihr redet? Ist er tot?«
    Â»Ich fürchte, ja«, antwortete Eljazokad heiser.
    Â»Dann soll er in der Erde liegen und schlafen und uns nicht mit Fragen behelligen.« Mit ihrem Schwert schlug die Ritterin dem Untoten den Kopf vom Rumpf. Der Kopf rollte in den Staub, der Rumpf stand noch kurz, kippte dann zur Seite und blieb liegen. Kein flüssiges Blut, nur geronnene Klumpen.
    Â»Entsetzlich!« entfuhr es Jeron. »Wozu stiftet ihr uns hier an? Das Zepter ist mächtig genug, Tote aus ihren Gräbern zu holen. Dürfen wir das den Riesen tatsächlich bringen, damit sie eine Armee unserer eigenen Toten gegen uns schicken?«
    Â»Dieser Mann war noch nicht bestattet«, erläuterte ihm Eljazokad. »Es ist kein Erdreich an ihm. Er war noch nicht lange tot. Möglicherweise hatte noch niemand sein Ableben bemerkt. Er hing unbeweint zwischen dem Dasein und dem Jenseits fest, deshalb konnte das Zepter zu ihm sprechen. Es spricht nur zu denen, die eine Frage in sich tragen.«
    Â»Spricht es zu dir?« fragte Rodraeg forschend. »Du siehst nicht gut aus. Ich möchte nicht, daß es dir ähnlich ergeht wie mir an der dunklen Quelle.«
    Â»Ich höre es raunen und fahnden«, gab Eljazokad zu. »Dort in mir, wo vorher Magie war und nun Leere herrscht. Aber es fühlt sich nicht bösartig an. Manchmal habe ich eher den Eindruck, es beschützen zu müssen wie einen Jungvogel, der von einer Bö aus dem Nest gezerrt wurde. Es möchte zurück in Rulkineskars Höhle, und es ist immer noch zu weit von den Riesen des Wildbarts entfernt, um diese als neue Heimstatt zu erkennen.«
    Â»Hast du das Gefühl … das Raunen und Fahnden wird stärker, je länger wir unterwegs sind?«
    Â»Nein. Das ist ziemlich eigenartig. Ich habe eher das Gefühl, wir … und alles um uns herum … werden immer schwächer. Das ist ganz bestimmt nicht normal. Rodraeg, wenn du mich so direkt fragst: Eigentlich würde ich das Zepter tatsächlich gerne abgeben, für die letzten Tage.«
    Â»Sicher«, bot Rodraeg ihm an, nur um im selben Moment gewahr zu werden, daß er selbst das Zepter auf keinen Fall tragen wollte. »Einer von deinen Leuten vielleicht, Ritterin?«
    Â»Oh, großzügig! Wir dürfen das heiße Eisen an uns nehmen, jetzt, wo wir uns dem Gebiet der Riesen und der möglichen Mißverständnisse nähern. Nun gut. Seraikella wird es tragen. Du hast doch keine Angst vor Spuk und Flüchen, oder, mein Großer?«
    Der Hüne schüttelte den Kopf und sah zumindest nicht so aus, als täte er das nur, weil die Ritterin ihm keine andere Wahl ließ. Beherzt griff

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