Das verhängnisvolle Experiment
teilweise von Brian Haston zu lösen. Damals, als sie der Leiche des Mädchens gegenübergestanden hat, da sind die Zweifel in ihr aufgebrochen wie eine heiße Quelle, die plötzlich die dünne Schicht in vielen Jahren zusammengesinterten Bodens hinweggeschwemmt hat. Sie hat die persönlichen Beziehungen zu Brian abgebrochen, sie ist sicher gewesen, daß sich hinter dem Tod des Mädchens mehr verbarg als ein Unglücksfall. Und sie hat beschlossen, Brian und Haston Base und alles, was damit zusammenhing, für immer zu verlassen, ein neues Leben zu beginnen.
Von dem Entschluß, sich von ihm und ihrer Aufgabe zu trennen, hat sie ihn unterrichtet; über den Weg, den sie danach einzuschlagen gedachte, hat sie kein Wort verloren. Sie fürchtete seinen Spott. Und den fürchtet sie auch noch heute, nachdem sie sich längst entschlossen hat, zumindest ihrer Aufgabe auch weiterhin treu zu bleiben.
Er sieht sie lange an, und sie erkennt an seinem Blick, daß er ihre Gedanken nachzuvollziehen versucht. Brian Haston verfügt über hervorragende psychologische Fähigkeiten.
»Diese überall praktizierten Zusammenschlüsse zu irgendwelchen alternativen Bewegungen sind fast immer die Folge von Trotzreaktionen gegen den Leistungsdruck«, sagt er da auch schon. Er hat tatsächlich erahnt, woran sie eben dachte. »Frag dich«, fährt er fort, »wovon eine Gesellschaft existieren soll, die sich nur aus Naturanbetern und Streichelfreunden zusammensetzt. Wir sind nicht wie die Tiere auf dem Feld, die nicht säen und nicht ernten und die doch leben. Dazu, meine liebe Maara, sind wir zu viele geworden.«
Er rettet sich gern in Gemeinplätze. Die, so meint er, müßte eigentlich jeder begreifen, auch diejenigen, die ihm an Wissen weit unterlegen sind. Das kränkt sie. Und sie weiß, daß eine Bemerkung wie die von den Tieren auf dem Feld als Abschluß des Disputes gedacht ist! So ist es und nicht anders! Schluß! Aus!
»Diese Menschen könnten ganz gut leben«, sagt sie trotzdem. »Sie brauchen ja nicht viel. Sie legen keinen Wert auf Statussymbole und auch nicht auf…«
»Wovon leben? Wer gibt ihnen zu essen? Wer kleidet sie? Sie können nicht nackt herumlaufen. Nicht im Winter!« Seine Stimme ist lauter geworden.
»Aber gegen Arbeit haben sie doch nichts. Sie könnten ganz gut…«
Jetzt lacht er triumphierend. »Also doch Arbeit! So begreif doch endlich! Mit der Arbeit beginnt die Leistung. Und mit der Leistung die Differenzierung, die Konkurrenz, der Druck, mehr zu leisten als andere. Und was haben wir dann? Den Anfang einer Gesellschaft, die Güter anhäuft, deren Individuen und Gruppen Reichtümer zu horten beginnen, die handeln und die sich schließlich der Kraft derer bedienen, die nichts besitzen. Auch dieser Weg würde letztlich zu einer Gesellschaft führen, wie wir sie heute haben. Besitz will vermehrt sein. Notfalls mit Gewalt.«
»Und das soll überall so sein? Auch bei denen dort…?«
Er winkt ab. »Die Ordnung dort drüben wird keinen Bestand haben. Daß es sie überhaupt noch gibt, haben sie nur uns zu verdanken. Unsere Existenz treibt sie zur Leistung. Blieben sie sich selbst überlassen, verfielen sie in Stagnation und gingen langsam unter. Weil ihre Grundhaltung den Regeln der natürlichen Auslese widerspricht, weil sie die Menschen über die Dinge stellen. Auch eine Gesellschaft ist letztlich ein Organismus, der gezwungen ist, kranke oder leistungsschwache Zellen durch neue zu ersetzen.«
Sie könnte ihm nachweisen, wie menschenverachtend eine solche Einstellung ist. Aber sie tut es nicht. Weil sie seine Art, sich zu rechtfertigen, nicht mag. Weitschweifige Erörterungen über Humanität, darüber, daß er selbstverständlich ein Herz für die Kranken und Schwachen habe, daß er um Himmels willen auch nicht im entferntesten daran denke, der Euthanasie oder der gesellschaftlichen Gesundschrumpfung das Wort zu reden, daß er persönlich überhaupt nichts gegen jene bedauernswerten Leute habe, die durch außerhalb ihres Einflusses liegende Gründe dazu verurteilt seien, auf Kosten der Gesellschaft zu leben, daß es aber eben nicht nach ihm allein gehe, sondern nach der Gesellschaft.
So kehrt sie zum eigentlichen Thema zurück, weil sie fürchtet, daß sie hinter solchen Worten die Wahrheit entdecken könnte. »Die dort drüben gibt es schon seit sehr langer Zeit. Da kannst du doch nicht behaupten wollen, es gäbe sie nur aus Trotz gegen uns. Zumal man ihrem System eine gewisse Stabilität…«
Abermals
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