Das Verheissene Land
König nirgends zu sehen. Abgesehen von den vier Kinlendern, die ihm an Bord geholfen hatten, befand sich niemand auf dem Schiff. Nicht einmal im Ausguck oben auf dem Turm war jemand zu sehen.
Die Krieger zeigten auf eine Luke im Deck eine Speerlänge hinter dem Thron, und Turvi begab sich hinkend in den Schatten unter dem Segeltuchdach. Dort führte eine Treppe in die Dunkelheit unter Deck. Er hängte die Krücke über die Schulter und rutschte nach unten.
Der strenge Geruch von Talg schlug ihm entgegen. Als er am Ende der Treppe die knarrenden Bretter betrat, war er von Dunkelheit umgeben. Aber er hörte etwas: einen Ton wie von einem fernen Vogel oder einem fernen Bach.
Er ging dem Geräusch nach, wobei er ständig gegen Balken, Wände und Streifen von getrocknetem Fisch stieß. Das Schiff war anders konstruiert als Brans Langschiff, hier verliefen enge Gänge zwischen abgetrennten Räumen und kleinen Verschlägen. Während er sich humpelnd zum Bug vorarbeitete, kam ihm der Gedanke, dass das Schiff größer als eine Häuptlingshalle wirkte. Und die Töne, denen er folgte, kamen von keinem Bach und keinem Vogel, der seine Sehnsucht nach dem Festland hinaussang. Das war eine Flöte.
Turvi zog die Fischhaut mit der Karte hervor, die er unter seinem Hemd verborgen hatte, und knetete sie in der Hand, als er weiterging. Jetzt konnte er weiter vorne zwischen den Taurollen und Fischgerippen ein Licht erkennen. Er ging weiter, stolperte über einen Querbalken und bückte sich unter einer Tonne, die unter der Decke festgezurrt war. Als er am Ende des Gangs um die Ecke bog, stand er vor N’Gamas Lager.
»Weiser Mann.« Der verkrüppelte Kinlender hielt ihm die offene Hand entgegen. In der anderen hielt er eine Knochenflöte. »Setz dich. Die Frauen werden uns etwas zu trinken bringen.«
Turvi ließ sich auf eine Bank fallen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die lederbezogene Wand. N’Gama lehnte mit seinem gebeugten Oberkörper am Steven, das schiefe Bein auf einem niedrigen Schemel ausgestreckt. Er trug eine Tunika, die die Zeit grau gefärbt hatte. Die Felle und Decken unter ihm waren zu einem festen Haufen zusammengedrückt, der die Umrisse seines Körpers hatte, und Turvi vermutete, dass dies der Rückzugsort des erschöpften Kinlenders war. An einem verrosteten Bügel unter der Decke brannte ein Talglicht, und um ihn herum und über ihm hingen unzählige Dinge, die allesamt aus den Ländern östlich des Sturmrands kamen. Gleich über seinem Kopf baumelten ein Bronzekessel und ein blau geschliffener Dolch an ein paar Sehnenfäden. Zwischen zwei Balken im Bug spannte sich wie ein Trennvorhang ein ausgebreiteter scharlachroter Umhang. An der Schottseite war ein Stiefel an die Wand genagelt und auf dem Brett über der Bank, auf der Turvi saß, hatte ein Schädel seinen Platz gefunden. Aber Turvi beachtete diese Dinge kaum, weil die Kartenrollen neben N’Gamas Lager seine ganze Aufmerksamkeit fesselten.
N’Gama griff sich an die Narbe, die quer über sein Gesicht verlief. »Ich sehe mit geschlossenen Augen. Ich fühle… yetl… Ich fühle.« Der Verunstaltete sah auf und zeigte mit der Flöte auf seinen Kopf. »Viele Worte. Ich vergesse.«
Die Bodendielen knarrten, und zwei Kinlenderfrauen betraten mit einem Krug und zwei Schalen den Lichtkegel. Eine Schale reichten sie N’Gama, die andere Turvi. Sie schenkten ihnen etwas ein und zogen sich, die langen Schwänze hinter sich her schleifend, ins Dunkel zurück.
»Yetl.« N’Gama kippte sein Getränk hinunter, und Turvi tat es ihm gleich. Es wärmte seine Brust und gab ihm das Gefühl, jünger zu sein.
»Yetl«, wiederholte N’Gama. »Das, was geschehen wird. Es ist wie Erinnerungen, aber Erinnerungen an kommende Zeiten.«
»Ich verstehe.« Turvi wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds über den Mund. »Du hast Einblick in die Tage, die kommen werden. Wie mein Häuptling hast du das Gesicht, vielleicht in deinen Träumen. Und du weißt, dass es Worte der Götter über die kommende Zeit sind.«
»Erinnerungen…« N’Gama senkte den Blick. »Hier unten träume ich von Zeiten, als ich noch war wie du. Hier träume ich von der Frau, die ich damals hatte. Dann sehe ich meinen verwandelten Körper und trauere.«
Turvi hörte stumm zu, obgleich er nichts sehnlicher wünschte, als N’Gama endlich die Karte zeigen zu können. Vielleicht konnte der Kinlender die Zeichen auf dem Pergament deuten, das Blutskalle in seinem Schiff versteckt hatte. Vielleicht
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