Das Verheissene Land
Turvi konnte seine Geduld nicht länger im Zaum halten. Die Zukunft seines Volkes stand auf dieser Karte, es war das Land, das Kragg Bran in seinen Träumen gezeigt hatte.
»Im Norden ist Land. Hier.« Er fuhr mit dem Finger an den ungleichmäßigen Linien am Kartenrand entlang. »Das einzige Land auf dieser Seite der ewigen Stürme. Aber es ist…«
»Land.« Turvi wischte sich über die Augen. »Es gibt Land. Niemand muss länger zweifeln.«
N’Gama schaute auf die Karte und schüttelte den Kopf. »Zweimal zehn Tage, seit wir vor Krims Heerscharen geflohen sind. Wir sind noch immer freie Menschen, einzig bedroht durch die Gefahren des Meeres. Heute haben Seeungeheuer neun meiner Männer geholt.« N’Gama bewegte den Finger aufwärts an der Küstenlinie entlang und verharrte bei den nächsten Zeichen. »Es ist dreimal zehn Tage her, seit wir Mansar verließen. Westlich von uns ist ein Mahlstrom, darum halten wir uns in Landnähe. Im Osten: Berge. In den Wäldern an der Küste hallen die Rufe der Dämonen wider und die Felsen sehen aus wie von bösen und fremden Göttern entstellt. Drei Männer vom Wahnsinn befallen.« Der Verunstaltete ließ den Finger weiter an den Rand der Karte wandern, wo Norden war, wie Turvi inzwischen begriffen hatte, und las weiter. »Windstille. Wir haben unseren Ahnen Blutopfer gebracht und sie gebeten, uns zu einer guten Küste zu führen, wo die Dämonen uns nicht finden können.« Ein Fingerbreit darüber verharrte N’Gama erneut und fuhr fort. »Unsere Hoffnung liegt im Norden. Aber den wahnsinnigen Männern ist nicht mehr zu helfen. Sie sind verloren. Heute Nacht werden wir sie töten und sie von ihren irdischen Leiden befreien.« An der Kante der Karte wölbte sich die Küstenlinie nach Westen, und N’Gama zischte Turvi die letzten Worte zu: »Heute werden wir Land ansteuern. Wir sind am Ende des Meeres angelangt. Der Wahnsinn bedroht meine Männer. Ich bitte bei meinen Vorvätern: Lass es noch nicht zu spät sein.« N’Gama hustete und fuhr mit dem Klauenfinger an dem Strich entlang, der sich vom Kartenrand bis zur Küstenlinie im Norden zog. »Hier endet das Meer. Hohe Berge sind hier eingezeichnet und daneben ein Fluss. An der Flussmündung stehen zwei Zeichen, die ich als ›Ber-Mar‹ deuten würde, was so viel wie ›schwarzer Strand‹ bedeutet.«
Turvi fuhr sich über den Bart; ihm fehlten die Worte. Das, was N’Gama eben vorgelesen hatte, war der Bericht eines Seemanns. Wie Bran und das Felsenvolk waren der Seemann und seine Besatzung losgesegelt, um ein neues Land zu suchen. Und sie hatten es gefunden. Die Karte war der endgültige Beweis dafür, dass Brans Träume von Göttern eingegeben waren. Es gab Berge im Norden. Und wo Berge waren, gab es auch Täler.
Der Einbeinige erhob sich mit Hilfe seiner Krücke und blieb eine Weile stehen, weil er schwankte. Auch wenn ihn sein langes Leben gegen starke Getränke abgehärtet hatte, spürte sein ausgemergelter Körper doch das Gebräu des Kinlenders. Der Verunstaltete gab ihm ein Zeichen, sich wieder zu setzen. Und Turvi tat, was er verlangte.
»Weiser Mann«, zischte der Verunstaltete. »Ich habe dich kommen lassen, damit du mir etwas von der alten Welt erzählst. Lass uns heute hier zusammen sitzen und einander lauschen, denn der morgige Tag verheißt böse Strömungen.«
Turvi kratzte sich im Nacken. Schon wieder so eine Andeutung. »Böse Strömungen?«, fragte er. »Sag mir, du, der du voll alter Erinnerungen bist: Was führen die Strömungen mit sich?«
N’Gama schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand. Aber ich fühle es. Lass uns heute also unser Wissen miteinander teilen und den Erinnerungen durch unsere Worte Leben einhauchen. Ich habe deine Karte gedeutet. Nun erzähl du mir von den Ländern im Osten. Sind Krims Söhne jetzt die Herrscher dort?«
Turvi setzte sich auf der Bank zurecht. Nicht einmal er wusste, wie viele Menschenalter seit Krims Herrschaft vergangen waren, aber die Geschichten berichteten davon, dass Krims Großreich mit seinem Herrscher gestorben war. Und seitdem hatten die Zeitabschnitte einander abgelöst wie die Jahreszeiten.
N’Gama und Turvi verbrachten den ganzen Tag in dem schwachen Lichtkegel des Talglichts. Zwischendurch brachten die Frauen ihnen getrockneten Fisch, Gebräu und Regenwasser, und als Turvi mit Einbruch der Dunkelheit zu frösteln begann, legten sie einen Umhang aus Haihaut um seine Schultern. Der Einbeinige gab dem Kinlender Worte über längst vergangene
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