Das Verheissene Land
wusste N’Gama etwas über ein Land im Norden oder Westen. Vielleicht wusste der uralte Greis etwas über das Tal, von dem Bran geträumt hatte, das Tal, wo Kragg sie erwartete.
»Wir sind Manannans Volk«, rief N’Gama plötzlich. Turvi glaubte Tränen in seinen Augen zu erkennen, aber in dem schwachen Schein des Talglichtes war das schwer auszumachen.
»Wir lebten auf Kin, einer Insel vor Mansars Küste. Aber Krims Schiffe auf den Wellen der Gezeitenströmungen waren zahlreich wie Silberfische, und was konnten wir anderes tun, als zu unserem Gott zu beten?«
Der Verkrüppelte beugte sich vor und ballte die Hand zur Faust. »Und wir hörten seine Stimme. Wir zweifelten nicht. Wir ließen ihn Salzspeere durch unsere Herzen schießen und uns in das verwandeln, was wir heute sind. Wir sahen die Insel unter unseren Füßen versinken. Und ich bin der Einzige, der sich noch erinnert, der Einzige, der jemals in menschlicher Gestalt über festen Boden gewandelt ist.«
Turvi tupfte sich die Augenwinkel trocken, denn in den Worten, die N’Gama mit seiner heiseren Stimme vortrug, lag ein Schmerz, den er selbst kannte.
N’Gama schenkte ihnen beiden nach, aber diesmal ließ er seine Schale unberührt vor sich auf dem Boden stehen. Er schloss den breiten Mund und sah Turvi an.
»Du hast mich gerufen«, sagte Turvi, da er in N’Gamas Augen las, dass die Zeit gekommen war, über das zu sprechen, weswegen der Kinlender ihn zu sich gerufen hatte.
»Fragen.« N’Gama schüttelte den Kopf. »Die haben wir beide. Fragen. Lass sie uns nun beantworten, denn bald wird das Meer rot vor Blut werden.«
Turvi legte die Stirn in Falten und strich sich über den Bart. N’Gamas letzte Worte über das Blut wollten ihm gar nicht gefallen. Aber er fragte instinktiv nicht weiter nach. Stattdessen rollte er die Fischhaut auf und hielt die Karte in den Lichtkegel.
»Ich glaube«, sagte er, »dass sie auf Mansarisch geschrieben ist.«
N’Gama nahm die Karte vorsichtig zwischen seine Klauenfinger. Er beugte sich darüber, während die schwarzen Pupillenschlitze in seinen Augen sich weiteten.
»Du hast Recht«, sagte er und hustete. »Karten wie diese habe ich schon früher gesehen. Hier ist die Küste im Norden eingezeichnet.«
»Im Norden?« Tuvi rutschte auf die äußere Kante der Bank. Er strich sich mit zitternden Fingern über den Bart. »Dann gibt es tatsächlich Land im Norden?«
Der Verunstaltete legte die Karte auf den Bretterboden und strich sie mit seinen langen Klauenfinger glatt. Dann zog er aus dem schummrigen Dunkel hinter seinem Lager einen Stock hervor, mit dem er das Talglicht herunterangelte. Er stellte es neben die aufgerollte Fischhaut und fuhr mit dem Finger über die krummen Linien.
»Hier ist der Sturmrand. Und hier, in Kin-Mar, sind wir.«
Turvi ließ sich von der Bank auf den Boden gleiten und robbte zu der Fischhaut wie ein neugieriger Junge. N’Gama zeigte auf ein paar Schriftzeichen am unteren Rand der Karte. Dort lag das Atoll. Die Kohlestriche daneben stellten offensichtlich den Sturmrand dar. Turvi blickte angestrengt auf die geheimnisvollen Symbole. »Ich flehe dich an«, flüsterte er. »Beim guten Willen der Namenlosen. Wenn du diese Schrift deuten kannst, dann verrate mir, was dort steht. Erzähl mir von dem Land im Norden. Denn das ist es, was wir suchen.«
N’Gama holte tief Luft, dann stieß er einen Schwall unverständlicher Worte aus. Turvi zog die Krücke zu sich heran; der Verkrüppelte erschreckte ihn mit seinen Gebärden und den rollenden Augen. Der Einbeinige kroch langsam zur Bank zurück, und erst als er wieder auf der Bank saß, wurde N’Gama still.
»Ich kann diese Schrift deuten«, erklärte der Verunstaltete und nickte. »Das sind Mansars Zeichen. Als ich noch ein Landmensch war, lernte ich, sie zu benutzen. Wir haben viel von Mansar bekommen; kostbaren Schmuck, Felle und Waffen. Selbst unsere Sprache kam von dort. Unsere Trauer war groß, als die Oberen sich auf Krims Seite schlugen!«
Turvi senkte das Haupt. Er kannte Kin-Mars Geschichte besser als irgendwer sonst in seinem Volk, und er verstand, welchen Schmerz es für den uralten Mann bedeuten musste, hier mit der Erinnerung an ein anderes Menschenalter zu sitzen.
»Meer«, stieß N’Gama hervor. Er fuhr mit dem Finger über die Karte. »Viel Meer. Alles hier draußen…« Er schloss die Augen.
»Wellen. Strömungen unter dem Wind. Im Westen und Süden. Meer. Und im Osten: die ewigen Stürme.«
»Und im Norden?«
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