Das Verheissene Land
Seine Hüfte schmerzte noch immer nach dem Fall durch die Luke, aber er war zu aufgeregt, um sich darum zu kümmern. Zwei Kinder rannten vor ihm her, zeigten auf ihn und riefen nach ihren Müttern. Er lächelte sie an. Wahrscheinlich hielten sie ihn ebenfalls für eine äußerst merkwürdige Erscheinung. Er hatte keinen Schwanz wie sie. Noch nicht einmal zwei Beine hatte er. Und die Kinlender hatten keine Bärte.
Turvi lachte in sich hinein und setzte seinen Weg zur anderen Seite des Decks fort. Von dort aus konnte er sehen, dass es nicht mehr weit bis zum Schiff des Königs war. Neben dem blassgrauen Wrack, auf das er sich hinaufgekämpft hatte, lagen zwei Flöße, und am Ende des zweiten Floßes befand sich der letzte Landgang, der zu dem alten Zweimaster hinaufführte. Und wieder legte er die Sehne über die Schulter, schwang die Krücke auf den Rücken und kletterte über die Reling. Mit dem Bein vorweg hangelte er sich die Planke hinunter, die auf das Floß führte. Sein langes Hemd rutschte ihm aus der Hose, als er nach unten glitt. Dann endlich landete er auf den glatten Rundhölzern und setzte sich auf. Das Floß stank nach Fisch, und während er sich mühsam aufrichtete, überfiel ihn wieder die Sehnsucht nach den Bergen.
»Noj«, flüsterte er, den Blick nach Osten gerichtet. »Ich vermisse dich, Häuptling. Wir hatten glückliche Zeiten zusammen. Ich bin sicher, dass Vianna jetzt bei dir ist. Sie wollte uns nicht begleiten. Tapfere Vianna. Bei deinem Grab ist sie geblieben. Oh, ich habe um sie geweint, Noj. Eyna und ich haben um sie geweint. Aber warte, sagen die Namenlosen. Warte, denn der Tod wird uns wieder zusammenführen.«
Der Alte griff sich an den Kopf und schaute zu dem Schiffsrumpf neben dem Floß empor. Dann rappelte er sich auf und stützte sich auf die Krücke, während sein Blick über die klare Wasserfläche jenseits der Mauer aus Wracks, Flößen und Riesenmuscheln schweifte. Es war wieder passiert. Er hatte sich an einem anderen Ort befunden. Als er zu Noj gesprochen hatte, war er zurück in der Felsenburg gewesen.
»Ich bin ein alter Mann.« Turvi schüttelte den Kopf und hinkte über das Floß. »Mein Körper ist gezeichnet von den Keulen der Vokker. Ich habe viele Winter erlebt. Jetzt bin ich erschöpft, verbraucht wie ein altes Fell. Sogar mein Verstand ist abgenutzt.«
Er warf einen Blick auf die Baumstämme unter seinem Fuß. Das Ende des ersten Floßes hatte er erreicht. Zwischen diesem und dem nächsten Floß war ungefähr eine Armlänge offenes Wasser. Turvi ließ sich auf die Kante sinken und schob sich langsam nach vorn. Als er jung war, war er wie eine Forelle in einem Bergbach geschwommen. Aber nachdem die Vokkerkeule ihm sein Bein genommen hatte, war es damit vorbei gewesen. Er hielt sich an der Floßkante fest, während er sich ins Wasser gleiten ließ.
»Jetzt führe ich schon Selbstgespräche«, sagte er und streckte sich nach dem anderen Floß aus. »Wann habe ich damit angefangen? Als mein Verstand sich zu verwirren begann? Ist das die Angewohnheit eines alten Mannes oder die verwirrte Rede eines Narren?«
Mit einem Stöhnen drehte er sich herum und fand Halt an dem anderen Floß. In jüngeren Jahren wäre er direkt zum Schiff des Königs geschwommen, selbst mit nur einem Bein hätte er das geschafft. Aber jetzt… Er stemmte den Oberkörper auf das Floß. Jetzt hatte er keine Kraft mehr für solche Dinge.
Turvi zog sich an der Planke hoch, die auf das Schiff des Königs führte. Früh am Morgen hatte N’Gama einen Krieger mit einer Muschel zu ihm geschickt. Der Krieger hatte ihm die Muschel wie eine kostbare Gabe überreicht. Auf dem weißen Perlmutt stand mit Kohle geschrieben: »Weiser Mann mit einem Bein komm zu N’Gama.« Und Turvi hatte verstanden. Sie hatten beide eine Menge Fragen, und Gespräche zwischen weisen Männern fanden am besten ohne die Anwesenheit von Häuptlingen und Königen statt.
Als er sich auf die Planke legen wollte, um sich nach oben zu ziehen, schoben sich mehrere Kinlender-Köpfe über die Reling. Sie warfen eine Strickleiter zu ihm herunter und gaben ihm Zeichen, dass er hochklettern sollte. Turvi trat auf die erste Sprosse, worauf die Krieger ihn nach oben zogen, und als er mit den Händen an das Geländer reichte, griffen ihm die schuppigen Hände unter die Arme und hievten ihn an Bord.
Turvi beschattete seine Augen gegen die Morgensonne. Aus seinen Kleidern tropfte das Wasser. Der Thron unter dem Sonnenschutz war leer, der
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