Das Verheissene Land
Zeiten und Länder, die er selbst nur aus den Erzählungen des Vogelmannes oder aus den Liedern der Händler und Jäger am Feuer kannte. Er erzählte von Krims Söhnen. Die zwölf Männer hatten das Reich ihres Vaters unter sich aufgeteilt, aber dann hatten sie sich zerstritten und gegenseitig bekriegt. Im Laufe der Kriege wurden alle Wegzeichen vernichtet, die die Grenzen auf den Ebenen und in den tiefen Wäldern gekennzeichnet hatten, und die Länder wurden wieder frei. Turvi gestikulierte mit den Händen, als er zu der Zeit der Reiterstämme kam, als Krugant am Nordrand der Meeresbucht entstand. Karawanen zogen über die Ebenen, zu den fernen Fichtenwäldern im Norden, Schiffe brachten Seide und wundersame Metalle aus Den Sieben Reichen. Nach der Zeit des Vogelmannes führte die Reise ihn weiter nach Süden, und er berichtete von den Völkern, die in diesen Reichen lebten. Er erzählte von den drei Stämmen Ars und dem fernen Reich in der Ebene südlich von Old-Myre und von Vandar, Mansar und Cogga. Er erzählte von Bran und dem Krieg, von Tir und dem Neugeborenen.
Und N’Gama erzählte ihm von den Gefahren, die das Meer barg, von Seeungeheuern und Tang, der Schiffe in die Tiefe zog. Er spielte auf der Knochenflöte und sang von Strudeln, die aus einem windstillen Meer heraus entstanden, von Stürmen und Mondfischen, die Wahnsinn in die Sinne der Krieger zauberten. Und er erzählte von Den Mächtigen.
Bran war vor den anderen wach geworden. Er hatte Tir weiterschlafen lassen und war an Deck geklettert. Er hatte sich den Schlaf aus den Augen gerieben und in die matte Sonne geblinzelt, die im Osten mit dem Sturmrand kämpfte, und seinen Blick auf die Wellen außerhalb des Atolls geheftet. Er fragte sich, was ihn geweckt hatte.
Und da war plötzlich der Schmerz aufgeflammt. Wie eine glühende Pfeilspitze hatte er sich in seinen Kopf gebohrt. Bran war auf die Knie gesunken und hatte nach Tir getastet, aber sie war nicht da gewesen. Er hatte gehört, wie die Männer unter Deck wach wurden, und wollte auf keinen Fall, dass sie ihn so sahen. Darum war er geflüchtet. Er war den Landgang hinuntergestolpert und zwischen Flößen und verrotteten Bordwänden entlanggelaufen.
Jetzt lag er in seinem Versteck im Lastraum eines alten Kelsmännerbootes. Außer dem Gestank von verrottetem Tang, dem harten Querbalken in seinem Rücken und dem grellen Licht, das durch den Bodenrost fiel, nahm er nichts wahr. Obwohl er das Licht kaum noch sehen konnte, weil der graue Schleier vor seinen Augen ihn fast blind machte und die Schmerzkrallen sich in seine Stirn bohrten.
Ihm war klar, dass er nicht ewig hier liegen bleiben konnte. Bald würden Dielan und die anderen sich fragen, wo er war. Und wenn Tir ihnen auch nicht weiterhelfen konnte, würden sie sich auf die Suche nach ihm machen. Aber in diesem Zustand konnte er unmöglich zu ihnen zurückgehen. Er hielt sich die Hände vor die Augen, sah aber nur einen grauen Schatten.
Er zog die Beine an. Er erinnerte sich an eine Gruppe Bettler, die in die Felsenburg gekommen waren. Er war damals noch ein Kind gewesen, aber niemals würde er die blinde Bettlerin vergessen. Ihre Augen waren gelb wie in der Sonne getrocknetes Leder, und überall, wo sie sich zwischen den Hütten vortastete, liefen die Kinder erschrocken vor ihr davon. Er hatte sich ebenfalls vor ihr versteckt, und als seine Mutter etwas von dem besten Fleisch in einen Beutel füllte und es ihr gab, hatte er sich die Augen zugehalten, aus Angst, dass es ansteckend war. Wie Bluthusten oder die Pest. Damals hatte er kein Mitleid gehabt, nur Angst vor dem Unbekannten.
Bran drehte den Kopf und starrte zu dem Eisenrost hoch. Tir sagte, dass die Angst mit den Schmerzen kam und dass er lernen müsste, mit diesem Schmerz zu leben. Und sie als Galuene musste es schließlich wissen. Er brauchte sich nicht zu fürchten. Durfte sich nicht fürchten. Dennoch war alles in ihm Angst.
Er fasste sich an das halb abgerissene Ohr. Er wollte nicht zu ihr zurück, solange er so war. Das Kind brauchte sie. Er musste allein damit fertig werden. Er atmete dreimal ein, tief, wie Tir es ihn gelehrt hatte. Das sollte die Schmerzen vertreiben. Warum brodelte es trotzdem in seinem Schädel wie siedendes Wasser in einem Kessel? Bran schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. Der Schmerz war sein Feind, und er wollte gegen ihn kämpfen wie ein Krieger, ihm die Axt in den brennenden Brustkorb hauen und den schreienden Kopf mit seinen bloßen Händen
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