Das Verheissene Land
Kin-Mar verlassen hatten. Die Wassertonnen waren weniger als halb voll und bei der Hitze verdunstete das Wasser, das für viele Menschen reichen musste. Bran hielt nach Zeichen Ausschau – nach Seevögeln am Himmel oder weißen Landwolken. Doch alles, was er sehen konnte, war Meer.
»Die Menschen werden langsam unruhig«, sagte Turvi. »Sie wissen, dass das Wasser kaum mehr für zehn Tage reicht. Das Land muss bald in Sicht kommen. Das Land, in dem Kragg auf uns wartet.«
Da raffte Bran den Umhang vor seiner Brust zusammen und sah weg; er wusste, dass Kragg nicht mehr sein Gott war. Drei Jahre waren vergangen, seit sie die Felsenburg verlassen hatten. Drei Jahre seit dem Morgen, an dem Kraggs Schwingen die Sonne verdeckten und sie sich alle voller Ehrfurcht in den Schnee duckten. Seither hatte sich Kragg nicht mehr gezeigt.
»Ich weiß«, murmelte der Einbeinige, als ob er Brans Gedanken lesen könnte. »Kaer hat mir erzählt, wen du im Sturmrand angerufen hast. Aus Furcht schriest du nach den Göttern von Ar.«
Bran erstarrte über dem Steuerruder. Niemand hatte davon etwas gesagt, und so hatte er beinahe schon gehofft, die Männer hätten ihn im Sturm nicht gehört. Doch Turvi klopfte ihm auf den Rücken und lachte.
»Sie sagen, der Krieg hätte dich geprägt. Dass Visikal dich zu einem der seinen gemacht hätte. Eine Weile war das so, glaube ich. Du warst eher ein Tirganer als einer von uns. Doch das ist jetzt nicht mehr so.«
»Du weißt, wer ich bin.« Bran legte eine Hand auf die Reling und umklammerte mit seinen Fingern das glatte Holz.
»Ich weiß«, sagte Turvi lächelnd. »Du bist ein junger Mann und fremde Götter ziehen junge Menschen an. Sogar Dielan hat mir flüsternd von diesem Horngott erzählt, den die Tirganer anbeten. Er hat mir vorgeschlagen, dass wir doch vielleicht – wie du – diesen Gott anbeten sollten. Doch ich sage dir, dass wir uns an unsere alten Götter halten und ihnen treu sein müssen! Denn diese Seereise wird nicht ewig dauern, und wenn wir zu dem Tal kommen, wird Kragg dort warten und unser Volk wird nie wieder zweifeln!«
Bran stützte sich mit den Stiefeln an der Reling ab und zog das Steuerruder zu sich heran. Der Bug schob sich in eine Welle und die Gischt schlug über das Deck. Er legte beide Hände ans Ruder. Dieses Meer verlangte seine ganze Aufmerksamkeit.
»Du hast selbst gesagt, dass es für alles Götter gibt, Turvi. Götter für Flüsse und Wälder, für warme Feuer und kalte Winternächte. Cernunnos war der Gott für den Krieg der Arer. So war das, Turvi.«
Der Einbeinige antwortete nicht. Bran hob seinen Blick von den Wellen.
Turvi war auf dem Deck zusammengebrochen. Er lag wie ein Bündel unter seinem Umhang und umklammerte mit der einen Hand seine Krücke, während er sich mit der anderen an der Reling festzuhalten versuchte. Bran ließ das Steuerruder los und hockte sich neben ihn. Der alte Mann stöhnte vor Schmerzen, als Bran ihm aufhalf. Er schob die Krücke wieder unter die Achsel, doch seine Hände zitterten.
»Ich werde dich nach unten bringen.« Bran zog ihn mit sich zurück zum Steuer und richtete das Schiff wieder auf.
»Nein, nein!« Turvi schlug wild mit den Armen, um sich aus seinem Griff zu befreien. »Das brauchst du nicht, Noj! Ich schaffe es allein nach unten. Verflucht sei der Vokker, der mir mein Bein genommen hat. Du weißt, dass ich mit dir auf die Jagd gegangen wäre, wenn…«
Plötzlich zuckte er zusammen und ließ die Krücke fallen. Bran half ihm, sich an der Reling hinzusetzen, denn der Einbeinige kniff immer wieder die Augen zu und fasste sich an die Stirn, als sei er gerade aufgewacht.
»Es ist wieder über mich gekommen.« Er starrte Bran an. »Die Erinnerungen waren so deutlich. Du warst Noj, Bran. Wir waren in der Felsenburg. Es war Frühling. Wir wollten auf die Jagd, doch ich konnte nicht.« Er strich sich über seinen Beinstumpf und legte die Stirn in Falten.
Bran sagte nichts dazu, denn er wusste nicht, was er hätte sagen sollen.
»Das Alter lastet schwer auf mir.« Turvi seufzte und bewegte den Kopf hin und her. »Die Hüfte schmerzt und das wurde auch nicht besser dadurch, dass mich die Männer mit meinen alten Knochen wie einen Sack durch die Luke nach unten geworfen haben. Ich bin hart aufgeschlagen und ich fürchte…« Er rappelte sich unter Stöhnen mit Hilfe der Krücke auf. Bran reichte ihm seinen Arm, doch Turvi hinkte über das Deck. »Nachts reißen mich die Schmerzen aus dem Schlaf. Eyna sieht das.
Weitere Kostenlose Bücher