Das Verheissene Land
Sie hat Angst um mich, Bran. Sie hat Angst, dass es ich es nicht bis in das neue Land schaffen werde.«
Brans Magen zog sich zusammen. Turvi war immer da gewesen. Er war es, der sich an die alten Zeiten erinnerte und den Mut der Menschen aufrecht hielt. »Du bist nicht alt.« Bran versuchte zu lächeln, doch so wie Turvi zitternd über seiner Krücke hing, spürte er bereits die schmerzhafte Furcht.
»Ich bin nicht nur alt«, sagte Turvi grinsend, »ich bin der Älteste, eine lebende Erinnerung an die Zeit des Vogelmannes. Bald werde ich sterben, und dann musst du den alten Speer in meine kalten Hände legen und meinen jämmerlichen Körper unter der Erde verbergen. Die Krücke kannst du auf dein Lagerfeuer werfen. Dort, wohin ich gehe, werde ich sie nicht brauchen.«
Der Einbeinige blieb stehen und sah an seiner Krücke hinab, und Bran versuchte zu vergessen, was er gesagt hatte. Er wollte davon nichts wissen. Turvi sollte nicht sterben. Er war wie eine Gebirgskiefer: verwachsen und krumm, aber zäh, standhaft und voller Trotz.
»Aber du kannst mir helfen«, hustete Turvi. »Du kannst mir meine letzten Tage etwas leichter machen. Schnitz mir noch eine zweite Krücke. Ich bin es leid, mich immer nur auf diese eine zu stützen. Mit einer Krücke unter jedem Arm verspreche ich dir, durchzuhalten, bis wir im neuen Land sind.«
Turvi drehte ihm den Rücken zu und humpelte unsicher zur Luke hinüber. Bran nickte vor sich hin. Sobald seine Wache vorüber war und er von Dielan abgelöst wurde, würde er beginnen, dem Einbeinigen eine Krücke zu schnitzen. Er konnte sie aus einer Ruderbank schneiden oder ein paar alte Speerschäfte verwenden. Es wunderte ihn, dass Turvi nicht früher darum gebeten hatte.
Bran schüttelte den Kopf und ließ sich die Haare vom Wind aus dem Gesicht wehen. Nangors Langschiff lag einen Pfeilschuss nordwestlich vor ihm. Der Seeräuber hatte das Segel gestrafft, doch das hinderte es nicht daran zu flattern, wenn sich das Langschiff in einem Wellental ein wenig auf die Seite legte. Dann sah es vor dem dunklen Meer immer wie ein gigantischer Flügel aus. In dieser Nacht schien der Vollmond auf das Meer herab und warf seinen silbernen Schein über die Wellen, doch er wusste, dass die nächsten Nächte dunkel werden würden. Der Silberschild stand jetzt tiefer am Himmel. Ein Mond war vergangen, seit Ulv geboren worden war, und der Sommer neigte sich bereits seinem Ende entgegen.
Bran schlug sich den Umhang enger um den Hals, denn bei diesen Gedanken spürte er plötzlich einen kalten Luftzug. Die Nachtwachen am Steuerruder wurden mit jedem Tag nach Norden länger. Er blickte zum Himmel empor. Das war der letzte Sommervollmond.
Bei Tagesanbruch flaute der Wind ab. Bran fand im Bugraum einen alten Speerschaft und kürzte ihn auf die Länge von Turvis Krücke. Hagdar schnitt ein Stück aus der hintersten Ruderbank, schliff es glatt und nagelte einen Streifen Leder darauf. Dann band Bran dieses Stück oben am Speerschaft fest und gab Turvi die neue Krücke. Die Männer freuten sich darüber, denn alle hatten bemerkt, wie schwach der Einbeinige geworden war.
Als die Sonne am Himmel emporstieg und sich die Wärme über dem Meer ausbreitete, kam das Felsenvolk an Deck. Turvi hinkte an Deck herum und probierte seine neue Krücke aus. Hagdar stellte sich hinter das Steuerruder und lehnte sich mit seinem breiten Rücken an den Steven. Bran legte sich zu Tir und dem Kind in den Schatten des flatternden Segels, und Orm und Gorm begannen an Deck, Hölzchen zu ziehen. Sie alle hatten sich angewöhnt zu ruhen, wenn der Wind mild war. Bran neigte den Kopf zur Seite und ließ den Blick über das Meer schweifen, doch die glatte Dünung ließ nicht die Spur eines Windhauchs erkennen.
Einen Tag und eine Nacht schliefen die Winde des Himmels. Am zweiten Tag trieben die Schiffe in einen Bereich, in dem sich die Meeresströmungen teilten. Tangarme lang wie Steinwürfe glänzten an der Oberfläche. Hier sahen die Menschen des Felsenvolk zum ersten Mal seit Kin-Mar wieder Zeichen des Lebens. Ein Fischschwarm flog an der Steuerbordseite aus dem Wasser hoch. Sie waren grau und klein wie Stichlinge, aber dennoch griffen die Männer zu ihren Messern und spuckten auf diese Hexerei. Denn die Fische hatten Flügel und flogen wie Vögel über das Meer.
An diesem Abend saß Turvi lange im Bugraum. Er weigerte sich, das Talglicht zu löschen, obgleich Bran sich aus den Decken schälte und sich beschwerte, der Kleine
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