Das Verheissene Land
die Hälfte von unserem geben.«
Turvi kratzte sich am Kopf. Er zeigte mit der einen Krücke auf einen Wasserschlauch, der in einer Vertiefung gleich hinter der Treppe lag. »Wir haben nur noch zwei.«
»Ich weiß.« Bran duckte sich unter eine Seilrolle, die von einem Deckenbalken herabhing, und zog den Wasserschlauch aus dem Sand.
Da schlug Turvi seine Krücken aneinander. »Volk von Kragg! Männer und Frauen! Hört, was ich zu sagen habe!«
Schläfrige Gesichter lugten unter den Decken hervor. Hagdar fluchte, stand auf und stieß sich den Kopf an einem Balken an. Ulv begann zu weinen.
»Der Mut wird uns in das neue Land führen! Und Mut braucht ihr, jetzt, da Bran ein neuerliches Opfer von euch verlangt!« Der Einbeinige lehnte sich auf seine Krücken und nickte Bran zu.
»Es geht um das andere Langschiff.« Bran versuchte die Blicke der Frauen hinten im Halbdunkel einzufangen, denn er wusste, dass sie sich als Erste dagegen wehren würden, wenn er ihren Kindern das Wasser wegnahm. »Sie haben kein Wasser mehr und bitten uns zu teilen, was wir noch haben.«
»Wir haben nur zwei Wasserschläuche!« Gorm warf seine Decke ab. »Das kannst du uns nicht nehmen, Bran! Denk an die Kinder! Ja, du hast doch jetzt selbst eins. Willst du, dass dein Sohn verdurstet?«
Bran wusste nicht, was er antworten sollte. Er hörte Ulv vorne im Bugraum weinen und legte den Wasserschlauch zu Boden. Sofort sprang Kai vor und nahm ihn ihm weg. Die Männer murmelten miteinander. Hagdar füllte einen Becher aus dem anderen Wasserschlauch und gab ihn seinem Jüngsten zu trinken.
»Habt ihr vergessen?« Turvi hinkte an den Ruderbänken entlang. »Habt ihr vergessen, wer euch darum bittet, etwas von unserem Wasser zu bekommen?« Er blieb stehen und atmete aus, ehe er erneut die Stimme erhob und zur Luke deutete. »Es sind unsere eigenen Leute, die uns anflehen. Die Witwen derjenigen, die in der Schlacht gegen die Vokker gefallen sind. Kuenn, Kiren, Nemni und all die anderen. Nemni bittet um Wasser für sich und ihr Neugeborenes!«
»Wir brauchen Wasser!« Gorm trat vor. »Du weißt das selbst, Turvi! Ein Wasserschlauch, der reicht nicht länger als zwei Tage!«
»Dann dursten wir zwei Tage länger.« Turvi hinkte an ihm vorbei und stellte sich neben die Schmiedebank. »Seid ihr jetzt wie die Kretter geworden? Wollt ihre eure eigenen für einen Wasserschlauch opfern?«
Es wurde still zwischen den Balken. Nur Ulvs Weinen antwortete Turvi, als dieser sich an Bran wandte. »Nimm den Wasserschlauch«, sagte er. »Gib ihn dem Blondbart. Ich bin sicher, dass Kragg uns bald das Land zeigen wird.«
Bran trug den Wasserschlauch an Deck und hielt ihn über den Kopf, damit Nangor ihn sehen konnte. Der Seeräuber steuerte näher. Bald kratzten die Relings aneinander, und ein blonder Mann kam herüber, um den Schlauch in Empfang zu nehmen. Bran zögerte in diesem Moment, denn Velar hielt sich sonst immer unter Deck auf, wenn die Schiffe aneinander festmachten. Velar trug jetzt keinen Schal um den Hals und die Narbe, die Bran ihm während des Zweikampfes zugefügt hatte, leuchtete weiß auf der sonnengebräunten Kehle. Doch Turvi kroch durch die Luke und sagte, dass er den Wasserschlauch abgeben müsse. Velar nahm ihn wortlos entgegen, drehte sich um und warf sich den Schlauch über den bloßen Rücken. Eine Weile blieb Bran so stehen und sah ihm nach; er betrachtete die glatten Muskeln, die den Wasserschlauch nach unten durch die Luke reichten, und die hellen Haare, die um seinen Kopf herumflatterten. Bran erinnerte sich, was Nangor über das Töten gesagt hatte. Jetzt wäre es leicht gewesen, dachte er mit einem Blick auf die Bögen und Pfeilköcher, die an der Reling festgebunden waren. Doch Velar hatte gelernt, er war gestraft und gezeichnet worden. Er hatte nicht mehr viel Zeit vor sich, das wusste er.
Ein weiterer Tag verging. Das Felsenvolk befeuchtete die Lippen mit Salzwasser und gab nur den Jüngsten jeweils einen Becher aus dem Wasserschlauch. Bran schlief wenig in dieser Nacht. Der Durst hatte ihn zu Beginn nicht gequält, doch jetzt vermochte er an kaum etwas anderes zu denken. Er hatte einen trockenen Mund, musste aber dennoch ständig Spucke schlucken. Er dachte an den Marsch durch Vandar und an den Hunger, der ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte. Damals hatte er seinen Durst mit Schnee gestillt. Ein Mann konnte viele Tage ohne Essen auskommen, doch ohne Wasser starb er am vierten Tag. Sie hatten nicht mehr viel Zeit,
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