Das Verheissene Land
Himmelskuppel, und wenn er nicht blind gewesen wäre, hätte er gesehen, wie Kragg seine juwelenbesetzten Flügel über den Nachthimmel ausbreitete.
»Kragg!« Seine Stimme verhallte in der leeren Dunkelheit. »Kragg, hilf mir! Nimm den Schleier von meinen Augen!«
Er kauerte sich auf den Boden und verbarg das Gesicht in den Händen. Durch die Worte wurde das Ganze so wirklich. Er bekam Angst, weil alles um ihn herum dunkel war, eine ewige Finsternis, in der seine Feinde sich unbemerkt an ihn heranschleichen konnten. Bran zog sein Messer und lauschte. Irgendwo hinter ihm raschelte es im Laub, und der Wind fuhr pfeifend über seinen Kopf hinweg.
»Ein guter Gott würde mir den Schleier von den Augen nehmen.« Er legte die kalte Messerklinge an die Stirn, damit sie den brennenden Schmerz linderte, und richtete seine blinden Augen schließlich wieder zum Himmel. »Aber du hast mich verlassen, Kragg! Du hast dein Volk verlassen! Du bist nicht mehr mein Gott!«
Es kam keine Antwort. Nicht einmal ein Wispern im Wind, nicht das geringste Zeichen, dass der Himmelsvogel ihn gehört hatte. Aber Bran wusste, dass es einen anderen Gott gab, den Gott, der sich ihm im Schneesturm in Vandar gezeigt hatte. Der, der Hörner trägt, der Gott der Arer. Sein Gott.
»Cernunnos!« Bran brüllte den Namen dessen, der Hörner trägt, gegen den Wind. »Sieh mich an! Du hast dich mir im Schneesturm gezeigt. Du bist ein mächtiger Gott. Nimm den grauen Schleier von meinen Augen und gib mir die Kraft, zu Tir zurückzufinden! Weck meinen Bruder, denn auch er ist ein Krieger!«
Danach sackte Bran vor Kälte zitternd zusammen. Mühsam kroch er zu der Trage und streckte sich neben seinem Bruder auf dem Fell aus. Er breitete den Wollumhang über sich aus und streckte den schmerzenden Nacken. Das nasse Hemd klebte an seinem Rücken. Der Wind frischte auf, griff unter den Wollumhang und hätte ihn fast weggerissen.
Bran rollte sich zusammen. Er wusste, dass er das Fell losbinden und über Dielan breiten sollte, aber ihm fehlte die Kraft, sich zu rühren. Stattdessen ließ er seine Gedanken zurück nach Tirga fliegen, zu den guten Tagen. Tir und er gingen durch die Gassen der Stadt und sahen sich die Arbeiten der Handwerker an. Sie saßen am Feuer in ihrem Zelt, warm unter dicken Fellen und satt von Fischsuppe. Sie lächelte ihn an und erzählte von dem Kind, das sie erwartete. Und er nickte ihr zu und legte noch ein Bündel trockenen Tang auf die Flammen. Wenn die Nacht anbrach, lehnte er sich gegen die Kiste mit den wertvollen Dingen. Da war das Schwert von Tirs Vater, der Krug, Vares Gabe, und Visikals Bronzehorn.
Bran schlug den Umhang zur Seite. Warum hatte er das Horn nicht mitgenommen? Damit hätte er den anderen ein Zeichen geben können. Aber er hatte nicht daran gedacht. Plötzlich wusste er, warum Visikal ihm das Bronzehorn gegeben hatte. Der Skerg hatte gewusst, dass Bran es in den Ländern auf der anderen Seite des Sturmrands brauchen würde. Aber das Horn lag auf seinem Schiff, damit jeder, der es sah, an seinen Unverstand erinnert wurde.
Die zwei Gestalten lagen die ganze Nacht reglos an dem Berghang, und der Wind zerrte an ihren Kleidern, dem Wollumhang und dem Fell, auf dem sie lagen. Es war Neumond. Von Osten trieben im Schutz der Dunkelheit Wolken heran. Nur eine der beiden Gestalten bemerkte das erste graue Tageslicht, das durch die Wolkendecke drang, öffnete den Mund in dem schwarzen Bart und gähnte wie ein alter Mann. Im nächsten Moment verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz und er griff sich stöhnend an die Brust. Als er sich aufrichten wollte, stellte er fest, dass er mit einem Gürtel festgebunden war. Er fuhr erneut mit den Händen über seinen Brustkorb, stöhnte und sank zurück. Es dauerte eine Weile, bis er genug Kraft gesammelt hatte, um sich erneut aufzusetzen. Dieses Mal löste er vorher den Gürtel und rollte sich von der Trage. Während er sich die Hände in den Achselhöhlen wärmte, starrte er ins Tal hinunter. Der Atem stand in einer Wolke vor seinem Mund.
»Bruder.« Er kniete sich neben Bran und rüttelte ihn an der Schulter, aber Bran drehte sich auf die Seite und zog den Wollumhang über den Kopf.
Dielan sah zum Gipfel des Berges empor. Sie befanden sich etwa in der Mitte des Hangs. Auf beiden Seiten fiel der Boden unweit von ihnen in schattige Abgründe ab. Er ging zu einem der Abgründe und sah hinunter. Er war nicht tief, und Dielan begriff nicht, warum Bran das Lager nicht dort unten
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