Das Verheissene Land
der Morgennebel schufen. Bran war sich nicht sicher, und er wusste, dass der Hunger Trugbilder entstehen lassen konnte. Er spannte die Nackenmuskeln und ging weiter auf den Berg zu.
Gegen Mittag hatte er die Talsohle erreicht. Er stellte die Bahre ab und band einen Wasserschlauch los. Beim Trinken fiel ihm ein Vogel auf, der über dem Berggipfel schwebte. Er sah aus wie ein Adler, aber als er über ihnen zu kreisen begann, sah Bran, dass er keine Federn am Kopf hatte. Der Vogel war glatzköpfig wie ein alter Greis. So einen Vogel hatte Bran noch nie gesehen. Es war wahrhaftig eine neue Welt und offenbar ein guter Ort für Adler, wenn sie so alt wurden, dass sie ihre Federn verloren.
»Eine neue Welt«, sagte er.
Da kam ein Windstoß vom Berg. Er blies über die Ebene, drückte die Grashalme zu Boden, fuhr ihm durch die Haare und raste heulend auf die Felswand zu. Bran bereute es, die Stille gebrochen zu haben. Es war, als würde ihm der Berg selbst antworten, und es war keine freundliche Antwort.
Er stellte sich wieder vor die Bahre und ging weiter. Der Boden wurde immer feuchter; bald war es der reinste Sumpf. Bran stapfte zwischen Grasbüscheln hindurch, auf denen sich weiße Wollgrasköpfe wiegten. An einigen Stellen sank er bis zu den Knien ein und der Schlitten blieb immer wieder in dem rotbraunen Morast stecken. Dielan schlief weiterhin tief, obgleich das Moorwasser bis an seinen Körper reichte. Bran versuchte die Speerspitzen über die Schultern zu legen, damit Dielan höher lag, aber die Bahre war zu schwer, und schon nach wenigen Schritten fiel er vornüber.
Der Sumpf zog sich viele Pfeilschüsse über die Ebene hin. In der Mitte wurde er tiefer, und anfangs versuchte Bran noch, die tiefen Gräben zwischen den Grasbülten zu meiden. Bei einem vermoderten Baumstumpf gab der Morasthügel unter seinen Stiefeln nach, und er verschwand bis zum Hals in dem dunkelbraunen Wasser. Da bemerkte er, dass es einfacher war, die Bahre mit Dielan zwischen den Bülten übers Wasser zu ziehen. So arbeitete er sich vorwärts, bis der Sumpf langsam wieder flacher wurde.
Es war Abend, als er die Trage über die letzten Grasbülte zog und wieder trockenen Boden unter den Füßen hatte. Weniger als einen Speerwurf entfernt erhob sich der Berg aus der Ebene. Bran ließ die Trage los und sank auf die Knie. Sowohl er als auch Dielan waren nass bis auf die Knochen und auch die kommende Nacht würde kaum wärmer werden als die letzte. Während der glatzköpfige Adler über ihnen kreiste, zog er sich und seinem Bruder die Kleider aus. Er band den Fellumhang los und packte Dielan darin ein, während er sich selbst in den Wollumhang wickelte. Wolle hielt die Wärme, selbst wenn sie nass war, dachte Bran. Das hatte er von seiner Mutter gelernt. Sie hatte ihn und Dielan im Winter immer in Wolle gekleidet.
Bran suchte Brennholz, aber außer ein paar mit Schwämmen und Flechten überzogenen Baumstümpfen fand er nichts. Er hockte sich neben Dielan und befühlte seine Stirn. Sie war warm, aber seine Hände waren kalt.
Wenig später senkte sich die Nacht über das Land und griff mit kalten Fingern nach Brans nackten Beinen. Bran bewegte die Zehen in den nassen Stiefeln, kauerte sich zusammen und versuchte zu schlafen, aber das ferne Heulen der Dämonen hielt ihn wach. Er schob den Kopf zwischen die Arme, aber die Stimmen ließen ihn nicht in Frieden. Sie riefen nach ihm. Sie schrien ihre Drohungen über die Ebene. Bran kroch weiter unter den Wollumhang. Er fror. Der Sommer war jetzt endgültig vorbei, dachte er. Die Kälte war ein Vorzeichen, dass es bald frieren würde, und auch die nächtliche Dunkelheit kündigte den herannahenden Winter an.
»Tir«, sagte er so leise, dass er es selbst kaum hörte, aber ihr Name tröstete ihn. Er sah sie unter dem Fell im Bugraum liegen. Das Kind lag an ihrer Brust und der schwache Schein des Talglichtes fiel über ihre Stirn und ihre Augen. Er wäre jetzt gern bei ihr gewesen, neben ihr, wie so viele Nächte zuvor. Und sie hätte sich auf die Seite gedreht und ihn zu sich unter die Decke schlüpfen lassen.
Am Ende schlief er vor Erschöpfung ein, aber dreimal weckte ihn das Heulen der Dämonen. Jedes Mal fuhr er hoch und sah sich um, konnte aber keine roten Gestalten entdecken, weder auf dem Berg noch auf der Ebene oder auf dem Felsabsatz über der Schlucht. Er befühlte Dielans Stirn und lauschte seinem Atem, ehe er sich wieder hinlegte. Sie waren in ein fremdes Land gekommen, an einen
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