Das Verheissene Land
seltsamen Ort, den die Götter fortwährend mit ihren unsichtbaren Händen formten. Tir, Gwen, Hagdar und die anderen machten sich inzwischen sicher Sorgen, und vielleicht würden Hagdar und einer der anderen Männer sich morgen früh auf die Suche nach ihnen machen. Vielleicht waren sie bereits unterwegs. Bran bat Cernunnos, sie vor den Dämonen zu beschützen, ehe er wieder einschlief.
Als die Sonne über dem Berg aufging, zog Bran die feuchten Kleider an. Er rieb Dielans kalte Hände und stopfte trockenes Gras in seine Lederstrümpfe, damit sie an seinen Füßen trocknen konnten. Dann wickelte er Dielan in den Fellumhang, legte ihn auf die Bahre und band ihn mit dem Gürtel fest, ehe er sich an den Anstieg den Berghang hinauf machte.
Einen Speerwurf von dem Platz entfernt, an dem sie die Nacht verbracht hatten, endete die Ebene. Ab hier stieg der Hang nackt und vom Regen glatt gewaschen an. Von der Ebene aus hatte der Berg wie ein Steinkegel ausgesehen, aber jetzt sah Bran, dass der Berg von Kerben und engen Felsspalten zerklüftet war, die ihn wie die Furchen in der Rinde einer alten Eiche durchzogen. In den Spalten hatten Bäume und Büsche Wurzeln geschlagen.
»Holz«, sagte Bran. Hier oben würde er Holz finden. Er würde Dielan ans Feuer legen, so dass sie nicht frieren mussten.
Als die Sonne über dem Berggipfel stand, war Bran bereits zwei Pfeilschüsse am Hang emporgeklettert. Die Bahre ließ sich inzwischen wieder leichter ziehen, und als er zurückschaute, konnte er den Wald auf der anderen Seite der Schlucht sehen. In diesem Moment erwachten die Krallen in seinem Nacken und den Schultern. Bran verfluchte den Schmerz und wollte sich nicht unterkriegen lassen, aber kurz darauf hatten sich die Klauen über den Augen festgekrallt. In seinen Ohren begann es zu rauschen, wie immer, wenn der Schmerz ihn quälte.
Bran schleppte sich noch einen Pfeilschuss weiter nach oben über den kahlen Berghang. Er würde sich von dem Schmerz nicht aufhalten lassen. Der Schmerz war sein Feind, eine böse Erinnerung an die Zeit vor Tir. Er ließ nicht zu, dass er ihn zerstörte. Aber die Krallen hatten noch eine Waffe. Sie nahmen ihm die Sicht.
Bran blinzelte und rieb sich die Augen, als sich der graue Nebel vor seinen Augen verdichtete. Die Bergspitze wurde zu einem verschwommenen Schatten. Die Unebenheiten und Einschnitte glitten ineinander. Er tastete sich mit den Füßen vorwärts, fand Halt und zog Dielan hinter sich her.
»Nicht gerade jetzt.« Er kniff die Augen zusammen, aber als er sie wieder aufmachte, war der graue Schleier noch dichter als zuvor. Er nahm jetzt nur noch den Schmerz wahr, den Wind in seinem Gesicht und die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. Und er zog die Bahre hinter sich her. Er war der Häuptling seines Volkes. Er durfte nicht aufgeben. Er musste das hier durchstehen, so wie die Häuptlinge seines Volkes ihr hartes Los ertragen hatten.
In dem Augenblick traten seine Füße ins Leere. Er fiel vornüber und stieß mit dem Knie an einen Stein, und als er sich abstützen wollte, schrammten seine Hände am Felsen entlang. Er rollte zur Seite und schnappte nach Luft. Sein Knie brannte. Seine Hände brannten. Er fasste sich ans Knie und befühlte die Haut um die Wunde. Er blutete kräftig aus einem Schnitt, der kaum länger als sein Daumen war. Bran nahm sein Messer und schnitt einen breiten Streifen von seinem Hemd ab, mit dem er das Knie verband. Dann stand er auf und wischte sich die blutigen Hände an der Brust ab. Er tastete sich zu der Trage vor und packte die Speere hinter der Spitze. Und als er die Bahre anhob, wandte er seine blinden Augen zum Himmel und schrie laut. Der erste Schritt trug ihn über die Mulde, in die er gefallen war. Der zweite brachte ihn wieder auf ebenen Untergrund. Und weiter ging es. Schritt für Schritt bewegte er sich über den Berghang nach oben.
Bran fiel öfter, als er zählen konnte, aber er kämpfte sich immer wieder hoch und stolperte weiter. Weder die Krallen noch der graue Schleier konnten ihn aufhalten. Sie waren seine Feinde, und er hasste sie. Der Hass erfüllte sein ganzes Denken, und erst, als der Wind kälter wurde, verstand er, dass die Nacht angebrochen war. Er setzte die Bahre ab und hörte eine ganze Weile nur seinen eigenen Atem. Dann drehte er sich in die Richtung, in der er das Tal vermutete. Ein kühler, nach Moorwasser riechender Luftzug stieg ihm in die Nase. Der Wind blies kräftiger hier oben. Er war näher an der
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