Das Verheissene Land
Nangor zog sich die Stiefel an und erhob sich. Bran legte seine Hand auf den Sand. Der Boden zitterte, als hätten sie ihre Feuer auf einem schlafenden Riesen entzündet. Die Frauen riefen die Kinder, und die Männer griffen nach Schwertern und Bögen. Bran stand auf und bemerkte die Vögel, die aus den Baumkronen aufflogen. Schwarze Krähen und gepunktete Stare flatterten über das Wasser und flogen dann in einem Bogen nach Süden, ehe sie in der Dunkelheit verschwanden.
Mit einem Mal war das Zittern vorüber. Bran ging zu Dielan, der dastand und sich seine schmerzende Brust hielt. Da begann es erneut. Das Land zitterte wie ein Hund, der eine lästige Mücke loswerden wollte. Männer und Frauen stürzten zu Boden, und Vile kullerte, den Krug unter dem Arm, zum Ufersaum. Konvai schrie und rannte auf seinen kurzen Beinen zu Gwen. Das Feuer sackte in sich zusammen. Wem es gelang, der kletterte an Bord der Schiffe.
»Lass uns fortsegeln!« Nangor krabbelte über den Sand. »Hier gibt es böse Geister, Bran! Die Unterirdischen trommeln gegen die Höhlendecken.«
Doch Nangor war ein Mann des Meeres und er wusste wenig über die Gebirge und deren Wurzeln. Noch ehe seine raue Stimme verklang, verebbte das Zittern und das Land lag wieder ruhig wie immer unter ihren Füßen. Ein Apfel landete neben Turvi im Sand. Der Einbeinige nahm einen Bissen davon und rappelte sich mit Hilfe seiner Krücken auf.
Die Männer sahen einander an. Gorm und Nosser war es gelungen, an Bord der Schiffe zu klettern, doch jetzt ließen sie sich wieder auf den Sand hinunter und schlenderten zur Feuerstelle. Es war nicht sehr ehrenhaft, Frauen und Kinder auf der Flucht im Stich zu lassen, was die zwei nur zu gut wussten. Sie richteten das Feuer wieder auf und bliesen Leben in die Glut, ehe sie sich wieder auf ihre Felle setzten, als wäre nichts geschehen.
Bran ging zu Tir. Sie saß noch immer oben beim Apfelbaum auf dem Pelzumhang. Ulv war aufgewacht. Als Bran sich neben sie setzte, griff der Kleine in seinen Bart und machte ein paar merkwürdige, gurgelnde Geräusche.
»Er hat weniger Angst als deine Männer«, sagte Tir und lachte. Sie blickte in das kleine Gesichtchen. Bran lächelte. Hagdar, Kai und die anderen versammelten sich wieder am Feuer, spähten aber beständig zwischen die Bäume.
»Sie fürchten das Unbekannte«, meinte Bran. »So war das schon immer bei meinem Volk.«
»Du bist nicht wie sie.« Tir strich ihm über den Nacken. »Visikal hat das gesehen. Du hast Mut, das Unbekannte zu sehen.«
Bran verstand nicht ganz, wie sie das meinte, doch er glaubte, dass sie es als Stärke ansah. Deshalb legte er sich neben sie, zog sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie roch warm und sicher.
Turvi hatte sich neben seinem Sohn Kaer und Hagdar niedergelassen, und die Waldgeister saßen stumm vor sich hin starrend auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Der Einbeinige hatte sie so in Erinnerung und kümmerte sich nicht darum. Er räusperte sich und hob den Arm, wie er es zu tun pflegte, wenn er etwas Wichtiges sagen wollte.
»Nicht zum ersten Mal zittert dieses Land unter unseren Füßen«, erklärte er und richtete seinen Blick auf Hagdar und Dielan. »Während ihr fort war, geschah es zweimal. Da war meine Angst größer als heute, denn ich wusste ja nicht, ob sich dieses Land vielleicht unter euren müden Füßen öffnen und euch verschlucken würde wie ein Wolf ein halb totes Lamm.«
»Uns verschlucken?« Hagdar hob seinen jüngsten Sohn Hagra auf seinen Schoß. »Wie sollte das wohl gehen, Turvi?«
Turvi hielt mit einem Stock einen glühendes Scheit in die Höhe. »Flammen«, murmelte er. »Der Odem der Drachen. Daraus sind die Gebirge erschaffen worden. Und tief in ihren Bäuchen fließen Feuer und brennende Steine. Das habe ich von meinem Großvater gelernt, denn der wanderte bis zu den Hängen des Todes am Nordrand des Lanzengebirges. Und dort sah er, wie das Land sich öffnete.«
Gwen schob sich die dunklen Locken hinter die Ohren und legte ihre Arme um Konvai. Alle wussten, dass Turvi die Kinder um den Schlaf bringen konnte, wenn er wollte. Und das wollte er oft.
»Die Erde platzte auf wie die Haut über einer Wunde!« Turvi schlug mit dem Stock in die Glut, so dass die Funken stoben. »Und fließendes Feuer kam zum Vorschein. Das Land blutete Flammen, wie ein Mann oder ein Tier blutet. Mein Großvater verbarg sich hinter einem Stein, doch da begann der Boden unter seinen nackten Füßen zu zittern
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