Das Verheissene Land
verspotten! Sollen sie doch vom Himmel herunterkommen! Ich werde um sie kämpfen. Das habe ich bereits getan, und ich habe gesiegt. Ich werde noch einmal siegen!«
Turvi ließ seine Krücken los und stürzte ins Moos hinunter, doch Bran ließ ihn liegen. Tir hustete wieder. Auf ihren Lippen war Blut.
»Kommt herunter!« Bran reckte die geballte Faust zum Himmel. »Kommt herunter und kämpft gegen mich! Ich verspotte euch! Ich werde keinen von euch anerkennen!«
Dann sank Bran zu Boden. Die schmerzbringenden Klauen bohrten sich in seine Augen. Er schmiegte sich an sie und nahm ihre Hand. Er würde über sie wachen. Bis sie wieder gesund war.
Dielan breitete ein Fell über seinen Bruder. Er lag mit halb geschlossenen Augen neben Tir und antwortete nicht, als sie sich über ihn beugten und ihn dazu bringen wollten, sich zu erheben. Es war bereits dunkel geworden, das Felsenvolk hatte Feuer entzündet und sich unter den Decken und Umhängen zusammengekauert. Sie sprachen an diesem Abend nur wenig, denn der Wasserfall übertönte alle Stimmen. Und vielleicht war es so auch am besten, denn niemand wusste, wie sie jemals auf die andere Seite der Berge gelangen sollten. Bran hatte sie bis an den Fuß der Steilhänge geführt, höher konnten sie nicht kommen. Die Männer starrten mit müden, entmutigten Blicken ins Feuer. Die Frauen trösteten die Kinder, denn sie waren erschöpft und begriffen nicht, warum sie nicht wieder zurück in den Schutz der Bäume gehen konnten. Keiner gab ihnen eine Antwort. Nur Bran konnte diese Antwort geben. Doch der lag reglos neben Tir, und seine geschlossenen Augen sahen die Sorgen des Felsenvolkes nicht.
Dielan, Turvi und die Waldgeister schürten das Feuer mit Birkenzweigen und achteten darauf, dass weder Bran noch Tir froren. Loke versuchte Bran zu wecken, doch als er dessen Augenlider hochzog, starrte Bran mit weißen, verdrehten Augen in die Nacht. Dielan meinte, er habe eine Art Anfall bekommen, wollte aber nicht mehr sagen, als dass sie bis zum Morgen warten müssten. Dann, meinte er, würde Bran schon aufwachen.
So hatte denn Gwen Ulv auf den Schoß genommen, während Dielan Konvai unter seinem Pelz wärmte. Es wurde eine kalte Nacht und als sich das Felsenvolk unter Decken und Pelzen zur Ruhe bettete, hatte der Frost bereits eine weiße Decke über den Boden gebreitet.
Bran träumte in dieser Nacht. Er stand am Feuer und sah sich selbst an Tirs Seite unter dem Fell zittern. Er sah sein halb abgerissenes Ohr, die Narbe an der Kehle und das Zucken in seinem Gesicht. Dieser Mann ist voller Schmerzen, dachte er und wandte sich traurig von sich selbst ab. Er beugte sich hinunter und nahm den Säugling aus Gwens Armen, die im Sitzen mit verschränkten Beinen und der Decke über dem Rücken eingeschlafen war. Dann trat Bran aus dem Lager und ging, das Kind auf dem Arm, zwischen den kahlen Birken hindurch. Der Junge sah ihn an. Sein Gesicht zeigte keine Rührung. Bran spürte die kalte Luft auf der Haut. Er sog den Geruch von Frost und Winter ein. Karain, der Vogelmann, hatte ihm einst beigebracht, die Jahreszeiten am Geruch zu erkennen. Doch Karain war jetzt nur noch eine ferne Erinnerung, ein vergessener Gott, weit, weit fort.
Bran ging zum Kolk hinunter. Dort blieb er stehen und richtete seinen Blick zum Himmel. Die Wolken waren fortgetrieben und die Juwelen in Kraggs Federkleid blinkten am Himmelszelt. Er sah den Großen Wagen und fünf Achslängen darüber leuchtete der Nordstern. Er stand direkt über dem Wasserfall und rief ihn zu sich. Und so folgte Bran dem Nordstern. Er ging am Kolk entlang auf den Wasserfall zu und starrte auf die tosende Wassermauer. Ulv griff in seinen Bart. Bran schloss die Augen, als er in den Wasserfall trat. Die Wassermassen drohten ihn zu Boden zu schlagen. Er drückte das Kind an sich, beugte seinen Rücken und machte einen weiteren Schritt nach vorn. Und der Wasserfall ließ ihn gehen. Bran schlug die Augen auf und sah, dass er in eine Höhle gekommen war.
Bran wachte mit einem Ruck auf. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Es war hell. Es war Morgen. Er warf das Fell zur Seite. Dielan, Gwen und all die anderen schliefen noch am Feuer. Nebel trieb über den Boden und die Moospolster waren weiß gefroren.
»Tir.« Er hockte sich neben sie. Sie lag unter vielen Decken und Fellen auf dem Rücken. Er befühlte ihre Stirn. Sie war nicht mehr so warm wie am vergangenen Tag. Sie öffnete die Augen, sah ihn an und legte den Kopf zur
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