Das Verheissene Land
Schrecken über die Geschöpfe sprachen, die das Schiff in ihren Besitz genommen hatten. Doch die Kinder schrien nach Essen, und so hatten die Frauen bald die Kessel über dem Feuer. Gwen kam mit gekochtem Fleisch zu Tir, und Bran stützte seine Frau beim Essen. Kianna schlug trockene Decken um sie, denn die Frauen meinten, die Geburt könne jetzt jeden Augenblick beginnen.
Nach dem Essen kletterte Bran an Deck. Tir schlief, und Kianna saß bei ihr. Er sah zum tiefblauen Himmel empor, denn auch hier leuchteten die Sterne. Und die Bilder am Himmelszelt waren die gleichen, die er aus den Kalanen der Felsenburg gesehen hatte; es waren die gleichen Sternbilder, die ihn auf dem Weg nach Tirga und durch den Krieg begleitet hatten. Er sah den Wagen, den Jäger und den Bogen Ekserks. Über der Steuerbordseite schien der Nordstern. Das verwunderte ihn, denn er hatte geglaubt, das Schiff sei in eine andere Welt getrieben. Doch es waren Kraggs Schwingen, die er unter dem Himmelszelt sah, es waren die Juwelen im Federkleid des Himmelsvogels, die dort oben leuchteten. Der Mond im Westen war der gleiche Mond, an dem sie schon immer die Zeit maßen.
Turvi humpelte über das Deck und hielt sich seine schmerzende Hüfte. »Wir sind in einem anderen Meer.« Er streckte den Hals und zwinkerte wie eine schläfrige Eule. »Doch das ist noch immer die Welt, in die wir geboren wurden. Und darüber bin ich froh, Häuptling. Kragg kann uns hier sehen. Wir haben die Stürme besiegt. Jetzt wartet das verheißene Land auf uns. Durch deine Träume hat uns Kragg den Weg gewiesen.«
Bran antwortete nicht. Turvi war unter Deck gewesen, als Bran Cernunnos um Hilfe angerufen hatte. Der Alte hatte nichts gehört. Doch Dielan, Hagdar und Kaer hatten es mitbekommen. Sein Glauben war jetzt kein Geheimnis mehr.
Bran und seine Männer standen schweigend an Deck. Die Fischmenschen saßen wie wachsame Adler auf der Reling und steuerten das Schiff durch die Strömungen. Und in diesen letzten Stunden der Nacht sah das Felsenvolk die ersten Wracks. Sie hoben sich, ein Schiff nach dem anderen, wie graue Erscheinungen vom Horizont ab.
Bran trat an die Reling. Überall waren Wracks. Sie trieben wie tote Möwen mit zerrissenen Segeln und gebrochenen Masten an der Wasseroberfläche. Verrottete Kelsschiffe, vandarsche Zweimaster und unzählige Wracks, an denen der Teer und das Harz in großen Placken an dem ergrauten Holz herabhingen; sie dümpelten träge an den Ankerketten, während das Langschiff unter dem metallisch bleichen Mond dahinglitt.
Turvi hinkte über das Deck. Er stellte sich neben Bran und zeigte mit zitternder Hand über das Meer. »Kin-Land…« Er stützte sich an der Reling ab. »Kin-Mar. Jetzt verstehe ich. Manannans Volk… der Name, den die Mansarer unter Blutskalles Messer heulten. Wir sind in Kin-Land.«
Da bemerkte Bran den hohen Schatten, der ein paar Pfeilschüsse vor ihnen aus dem Dunst emporragte. Er trat an den Bugsteven und stellte sich neben Dielan und Hagdar. Die Fischmenschen steuerten das Schiff an Untiefen vorbei, über denen lange Tangarme wie das Haar ertrunkener Riesen in der Strömung trieben.
Ein heiserer Ruf ertönte von dem dunklen Schatten. Die Fischmenschen antworteten. Der Turm wuchs aus dem Dunst und das Felsenvolk sah das mächtige Bauwerk, das im Meer zu treiben schien: ein masthoher Turm, errichtet aus Wrackresten und Riesenmuscheln. Der Mond schien auf die glänzende Haut der Wachen. Sie lehnten sich über die Reling, als das Langschiff vorbeiglitt, schnupperten wie wilde Tiere und husteten den Fischmenschen an Deck merkwürdige Worte zu.
Und als sich die Schwester des Windes im Osten erhob, trieb der Nebel vor dem Atoll weg. Eine lang gestreckte Reihe von Wracks, Flößen und Türmen zeichnete sich auf dem blanken Meer vor dem Langschiff ab. Mehrere Aussichtstürme überragten die Hafenstadt. Irgendwo erklang ein Horn, und als der Laut vom Turm hinter dem Achtersteven beantwortet wurde, erkannte Bran, dass es Konchylien waren, auf denen sie bliesen.
»Es ist wahr… es ist wirklich wahr.« Turvi riss die Augen unter seinen weißen Augenbrauen auf. »Die Legende, von der Karain erzählt hat, erinnert ihr euch, Männer? Das ist das Volk, das früher einmal östlich vom Sturmrand lebte. Sie waren Menschen wie wir und lebten auf einer Insel südlich des Blutsunds. Krims Kriegsflotte näherte sich und die Kinlender baten Manannan, sie zu retten. So verwandelte Manannan sie in Fischmenschen und ließ sie
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