Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verhör

Das Verhör

Titel: Das Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
Vom Netzwerk:
wollte der Junge offenbar andeuten, dass der Bruder des Mädchens irgendwie in den Mordfall verwickelt war. Dass sie an dem Tag, an dem sie umgebracht wurde, gestritten hatten, was ein Motiv sein könnte. Trent rief sich ins Gedächtnis zurück, dass der Bruder ein Alibi hatte, auch wenn er wusste, dass Alibis fingiert werden konnten. Ob es lohnte, der Sache nachzugehen? Müsste man der Sache nachgehen? Wenn ja, würde das die jetzige Situation völlig über den Haufen werfen. Und das durfte nicht sein. Meine Aufgabe ist Jason Dorrant, nicht der Bruder des Mädchens.
    »Was meinen Sie, Mr Trent?« Der Junge wartete auf Antwort.
    »Ich glaube, es war ganz richtig, Jason, dass du nichts gesagt hast«, sagte Trent. Ich kann mir das hier nicht entgehen lassen. »Diese Art von Information, von der du sprichst, ist allzu vage und würde in einem ohnehin schon komplizierten Fall nur zusätzlich Verwirrung stiften. Die Polizei hat bei allen, die mit dem Fall zu tun haben, gründliche Untersuchungen durchgeführt, auch bei den Familienmitgliedern. Soviel ich weiß, konnte Alicias Bruder seine Aufenthaltsorte an diesem Nachmittag genau nachweisen. Er war die ganze Zeit mit seinen Freunden zusammen.«
    »Okay«, sagte der Junge, akzeptierte ohne weiteres Trents Urteil. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als wäre er erleichtert, dass in einer Angelegenheit, die ihm zu schaffen gemacht hatte, eine befriedigende Entscheidung gefallen war.
    Trent legte eine Pause ein und überlegte, ob jetzt der Augenblick gekommen war, um das Vorgeplänkel zu beenden und mit der Strategie loszulegen, die unausweichlich zum Höhepunkt führen würde. Angesichts der zunehmenden Hitze im Raum und der feuchten Haut des Jungen, vor allem der Schweißperlen auf seiner Stirn, beschloss Trent vorzupreschen. Das Risiko einzugehen.
    »Erzähl mir doch mal von Alicia Bartlett, Jason, und was du für sie empfunden hast.«
    Erstaunlicherweise schien der plötzliche Themenwechsel den Jungen weder zu bestürzen noch irgendwie durcheinander zu bringen.
    »Sie war ein nettes kleines Mädchen und ich war gern ab und zu mal mit ihr zusammen. Sie war blitzgescheit, aber sie war auch das, was meine Mutter eine Wichtigtuerin nennen würde. Ich meine, sie war großartig darin, ihre Puzzles zu legen, aber wenn sie nach den richtigen Teilen suchte, ächzte und stöhnte sie dabei, und dann fügte sie auf einen Schlag fünf oder sechs Teile ein und schaute mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht an.«
    »Ein intelligentes kleines Mädchen«, sagte Trent.
    »Sie war viel gescheiter als ich«, sagte der Junge. »Einmal wollte sie mir Unterricht im Puzzeln geben. Sie hat mir gezeigt, wie man die passenden Teile heraussucht und dass man immer mit den Rändern anfängt. Es hat ihr viel Spaß gemacht, so zu tun, als war sie die Lehrerin und ich so was wie ihr Schüler.«
    »Meinst du, sie hat dich nur hochgenommen?«, fragte Trent.
    »Mich hochgenommen?«
    »Ja. Dass sie sich in Wirklichkeit über dich lustig gemacht hat?«
    »Warum sollte sie das tun?«
    »Vielleicht hat es ihr Spaß gemacht, dich zu necken, sich überlegen zu fühlen. Vielleicht war sie unsicher und musste so etwas tun, um mehr zu scheinen, als sie war.«
    »Es war genau andersrum«, sagte Jason. »Sie hat nicht geprahlt oder so. Sie hat mir einfach nur gezeigt, wie man Puzzles legt.«
    »Oder wollte sie dir das Gefühl geben, unterlegen zu sein?«
    »Nein«, sagte Jason, dachte mit gerunzelter Stirn an diesen Unterricht zurück. Hatte sich Alicia tatsächlich über ihn lustig gemacht? »Warum sollte sie so was tun?«, fragte er wieder.
    »Vielleicht war sie gar nicht wirklich deine Freundin. Vielleicht hat sie nur so getan.«
    Jason war so verdutzt, dass sich sein ganzes Gesicht in Falten legte. Im Zimmer war es jetzt noch heißer als zuvor. Es war, als würde die Hitze mit jeder Sekunde weiter ansteigen. Er zappelte auf seinem Stuhl herum, spürte den Schweiß, der sich in seinen Achselhöhlen sammelte. Sogar seine Füße schwitzten in den Socken.
    Weil er nicht wusste, was er sagen sollte, konnte er nur seine Frage wiederholen. »Warum sollte sie so etwas tun?«
    »Wer kann schon die Handlungsweise der Menschen erklären?«, sagte Trent. »Selbst die von kleinen Mädchen. Kleine Mädchen sind nicht immer so naiv, wie wir vielleicht meinen. Dieser alte, abgedroschene Spruch - der Schein trügt. Der Spruch ist so abgedroschen, weil er wahr ist, Jason. Es war schwer für dich, Alicia einzuschätzen.

Weitere Kostenlose Bücher