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Das verlassene Boot am Strand

Das verlassene Boot am Strand

Titel: Das verlassene Boot am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott O'Dell
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Haus führte ein steiler Pfad zum Strand hinunter.
    An diesem Morgen saß er vor dem Haus in der Sonne und schnitzte aus einem kleinen Holzstück ein Schiff. Er klebte die Teile mit Leim im Inneren einer Flasche zusammen. Ich hatte noch nie ein Schiff mit Masten und Segeln in einer Flasche gesehen.
    Ich wartete, bis er eine Pause einlegte und sein Blick über das Meer schweifte. Dann fragte ich ihn nach meiner Tante Karana.
    »Ich habe nicht mit ihr gesprochen«, sagte Kapitän Nidever und hielt die Flasche gegen die Sonne und drehte sie im Licht. »Sie ist wie eine Bergkatze über die Felsen geklettert und hinter den Klippen verschwunden.«
    »Aber Sie haben sie mit eigenen Augen gesehen?«
    »Ja, und auch ihre Fußspuren. «
    »Es war bestimmt kein Mann, den Sie da gesehen haben?«
    »Männer sehen anders aus als Frauen, sogar auf einer Insel. Nein, ich habe sie und ihre Fußspuren gesehen. So deutlich wie den hellen Tag.«
    Dann stellte ich ihm die Frage, wegen der ich hergekommen war: »Señor Capitán, wie sind Sie zur Insel gelangt? Sind Sie südlich oder nördlich an Santa Rosa vorbeigesegelt?«
    »Weder noch. Wie du weißt, gibt es vor der Küste zwei Inseln. Santa Cruz zu deiner Linken und Santa Rosa zu deiner Rechten. Zwischen ihnen gibt es eine Rinne, eine schmale Rinne, und in dieser Rinne muß man sich halten.«
    Er legte die Flasche auf die Decke, die er vor sich ausgebreitet hatte, und schaute mich fragend an. »Du denkst doch nicht wirklich daran, zur Delphinen-Insel zu segeln, oder?«
    »Doch.«
    »Womit?«
    »Mit einem Walboot. Der Sturm hat es an den Strand geschwemmt.«
    »Wie groß ist es?«
    »Ungefähr sechs Schritte lang.«
    »Also ungefähr sechs Meter. Diese Walboote sind seetüchtig und robust. Wer begleitet dich?«
    »Mein Bruder.«
    »Wie alt ist er?«
    »Zwölf. Nun ja, fast zwölf.«
    Kapitän Nidever hob die Flasche auf und schwieg lange. »Du und dein Bruder in einem Sechsmeterboot«, sagte er dann. »Ihr habt mehr Mut als ich. Es gibt eine Menge Wasser da draußen und schwere Winde und Riffe und Felsen. Was für Segel habt ihr?«
    »Keine.«
    »Wie willst du dann da hinkommen?«
    »Wir rudern.«
    Kapitän Nidever schnaubte. »Weißt du, wie weit es bis zur Delphinen-Insel ist?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Mindestens sechzig Seemeilen. Bist du schon jemals sechzig Seemeilen gerudert durch Wellen, die von Alaska her rollen und bei einem Wind, der nur selten mit weniger als fünfundzwanzig Knoten bläst?«
    »Nein.«
    »Bist du schon jemals sechs Meilen gerudert?«
    »Nein.«
    Kapitän Nidever tupfte ein wenig Leim auf einen Holzsplitter, den er mit einer Pinzette festhielt, und schob ihn dann langsam in die Flasche. Er hielt den Atem an. Dann legte er die Flasche wieder hin und musterte mich aufmerksam.
    »Du bist ein kräftiges Mädchen, und dein Bruder ist auch stark. Aber ich rate euch, bleibt hier. Ihr werdet es niemals bis zur Insel schaffen, bei dem schweren Seegang, bei den Winden und Nebeln, und ohne Segel und ohne Erfahrung.«
    Ich hörte Kapitän Nidever zu und schwieg; seine Worte konnten mich nicht von meinem Plan abbringen. Ich stand auf und schüttelte den Sand aus meinem Rock und dankte ihm für seinen Rat.
    »Ich segle bald wieder in diese Gegend«, sagte Kapitän Nidever. »Ich möchte den Chumas einige ihrer großen Kanus abkaufen. Wenn wir uns einigen, werde ich noch bevor der Sommer zu Ende ist, zur Delphinen-Insel fahren. Und diesmal werde ich deine Tante finden. Sie klettert zwar wie eine Bergziege, und sie hat einen riesigen Hund, er ist doppelt so groß wie normale Hunde, aber diesmal werde ich sie finden.«
    Ich kehrte zur Mission zurück und beendete meine tägliche Arbeit, dann suchte ich nach meinem Bruder. Ich fand ihn in der Werkstatt, wo er ein Stück Eisen zu einem Angelhaken zurechtfeilte.
    »Du hast doch schon hundert Angelhaken«, sagte ich erstaunt.
    »Jetzt hab' ich eben einhundert und einen.« Er hielt den Haken hoch. »Damit fang' ich den größten pez espada, den es je im Meer gegeben hat.« Der Angelhaken war dicker als sein Daumen und dreimal so lang. »Damit kann man einen Wal fangen.«
    »Wir werden keine Wale fangen«, sagte ich. »Und auch keine espadas.«
    Von diesem Tag an legte ich von unserem Essen heimlich Dörrfleisch und anderes beiseite und sparte Proviant für eine Woche auf See zusammen.
    Mando sagte, wir könnten von dem leben, was das Meer uns biete, von Fischen und Hummern, von Abalonen und Muscheln von den Felsen der

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