Das verletzte Gesicht
Kirche?“
„Ja, das würde ich sehr gern.“
Als Charlotte das am Abend Michael erzählte, fragte er stirnrunzelnd, warum seine Mutter glaube, jeder müsse zur Kirche gehen, um gerettet zu werden.
„Ich glaube kaum, dass sie sich Sorgen um meine unsterbliche Seele macht, außer vielleicht wegen unseres sündhaften Zusammenlebens. Damit hat sie wirklich ihre Schwierigkeiten. Aber sie lässt es sich nicht anmerken.“
„Dir ist hoffentlich klar, dass sie sich mit diesem Arrangement nur zufrieden gibt, weil sie Enkelkinder haben will.“
„Ich glaube, es liegt ihr sehr am Herzen, dass ich ihre Enkel im katholischen Glauben erziehe.“
„Mir wäre das gleichgültig“, erwiderte Michael. „In meinem Haus hat übertriebene Religiosität keinen Platz. Ich habe lange gebraucht, sie abzuschütteln. Meinen Kindern möchte ich das ersparen.“
„Das verstehe ich, aber ich möchte, dass unsere Kinder im Glauben erzogen werden. Ich könnte mir nichts anderes vorstellen … die Sakramente, die Tradition. Die tollen Kopfbedeckungen …“ Sie lachte, als er schmunzelte. „Religion bindet eine Familie aneinander. Michael, du möchtest doch, dass unsere Kinder im katholischen Glauben erzogen werden, oder?“
Michael sah sie ernst an. „Ist dir eigentlich klar, dass wir von unseren Kindern sprechen?“
Sie wandte den Blick ab und stellte sich ein rosiges Baby mit Michaels schwarzem Haar und seinen dunklen Augen vor. Die Vorstellung, Mutter zu sein, war plötzlich sehr real. „Ich denke schon“, gestand sie verblüfft.
Am Sonntag nahm Charlotte zusammen mit Marta und Luis in der Kirche „Unserer Jungfrau von Lourdes“ an der Messe teil. Marta nach alter Tradition in schwarzer Mantille, einen Rosenkranz mit Holzkreuz in der Hand. Luis blätterte mit seinen schwieligen Händen im Gebetbuch und bewegte dabei die Lippen.
Der Weihrauchgeruch, die strahlenden Buntglasfenster, die Statuen von Maria und Josef zu beiden Seiten des Altars und natürlich das Marmorkruzifix darüber hatten etwas sehr Bewegendes für Charlotte. Sie fühlte sich wie nach langer, schwieriger Reise heimgekehrt. Der Ablauf der Messe war ihr noch wohl vertraut, ebenso die Gebete. Als Marta bemerkte, dass ihr Tränen in die Augen getreten waren, tätschelte sie ihr mitfühlend die Hand.
Am Abend, als draußen die Grillen zirpten und Michael auf dem Sofa las, setzte sich Charlotte an den großen Eichentisch und versuchte zu Mozarts kleiner Nachtmusik ihre Gedanken zu ordnen, um einen Brief zu schreiben.
„Ist dir klar, dass du schon fast eine Stunde reglos dasitzt?“ fragte Michael vom Sofa aus.
Sie blinzelte erschrocken, wie aus tiefem Traum erwacht.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“
„Bei meiner Mutter.“
Er ließ das Buch sinken und sah sie aufmerksam an.
„Ich überlege, mit welchen Worten ich die Kluft zwischen uns überbrücken könnte. Der Besuch in der Kirche hat mich an glücklichere Zeiten mit meiner Mutter erinnert. Jeden Samstag haben wir Stunden damit zugebracht, die Kirche auf Hochglanz zu bringen. Wir haben Messingleuchter poliert, Chorgestühl abgestaubt, die Priestergewänder gelüftet und Blumen arrangiert.“
„Hat dir das Spaß gemacht?“
„Spaß hat mir vor allem gemacht, wie viel Aufmerksamkeit meine Mutter mir widmete, wenn sie mir zeigte, wie man ordentlich putzt. Ich habe ihr gern und fasziniert zugesehen. Sie achtete sehr darauf, dass Gottes Haus blitzsauber war. Vielleicht haben wir über all der Putzerei ganz vergessen, den Unrat aus unserem eigenen Leben wegzuräumen.“
„Warum schreibst du ihr das nicht? Sag ihr genau das.“
„Was?“
„Du hast mir gerade erzählt, was du ihr eigentlich sagen möchtest. Wenn du den Unrat aus eurem Leben entfernen willst, krempel die Ärmel hoch und fang an.“
„Sie denkt vielleicht, ich mache ihr Vorwürfe.“
„Machst du?“
„Nein“, erwiderte sie nach kurzem Zögern. „Nicht mehr. Ich möchte ihr nur wieder näher kommen. Unser Glück, unsere Gespräche über Zukunft und Kinder haben mich verändert. Meine Mutter fehlt mir.“
„Das solltest du ihr vielleicht auch mitteilen.“
Als Michael und Luis eine Woche später heftig gestikulierend und diskutierend um die Hausecke bogen, blieben sie wie angewurzelt stehen. In der Blockhütte saß Charlotte am Küchentisch, Kopfhörer auf den Ohren, vor sich einige Bücher. Sie lauschte mit geschlossenen Augen und antwortete dem Band auf Spanisch in bemerkenswert guter Aussprache.
Michael war
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