Das verletzte Gesicht
nur abwinken, als hätte jeder Verrückte, der jetzt noch ins Tal fuhr, verdient, dort zu sterben.
Vernunft gebot ihm umzukehren. Jenseits des Highway sah er den angeschwollenen Fluss mit unglaublicher Strömung bereits über die Ufer treten. Aber diesmal nützte ihm seine Vernunft nichts. Er musste weiter.
Die klickenden Scheibenwischer kamen kaum gegen die Wassermassen an. Donner krachte über ihm wie eine Warnung, endlich stehen zu bleiben. Blinzelnd über das Lenkrad vorgebeugt, versuchte Michael genauer zu erkennen, wo er war. Eine lange Schlange von Fahrzeugen kroch auf der Gegenfahrbahn aus dem Tal heraus. Er musste zwei Hunden ausweichen, die neben einem Lieferwagen voller Menschen herliefen. Kinder winkten den Hunden aus dem Fenster zu und schrien ihre Namen. So weit sind wir also schon, dass wir uns zwischen Mensch und Tier entscheiden müssen, dachte er und brachte den Wagen wieder in die Spur.
Während er an der Autoschlange entlangfuhr, winkte man ihm zu, hupte und schrie: „Kehr um!“
Er ignorierte es und fuhr weiter. Diesmal analysierte oder plante er nicht. Seine Familie war in Gefahr, also folgte er seinen Instinkten, fest entschlossen sie zu retten.
Als er das Haus erreichte, waren die Fenster mit Holz und Plastikplanen verschlossen, und Manuels Lieferwagen parkte draußen. Michael schlug die Wagentür zu und rannte ins Haus. Obwohl ihm Wasser den Rücken hinunter und in die Augen rann, sah er Maria Elena und Cisco vor dem Fernseher den Wetterbericht verfolgen. Als er eintrat, sprangen sie auf und umarmten ihn stürmisch.
„Tío Miguel, sie sagen, wir sollen das Haus verlassen, sofort!“
„Ja, ich weiß. Das werden wir auch. Habt ihr gepackt?“
„Ja“, erwiderte Cisco und gab sich männlich, trotz der Angst in seinem Blick. „Mama hat unsere Sachen und etwas zu essen in den Lieferwagen geladen.“
„Gut, wo ist eure Mama?“
„In der Gärtnerei. Sie bringen die Pflanzen auf den Hügel.“
„Okay, hört zu. Ich brauche eure Hilfe. Maria Elena, du holst den Erste-Hilfe-Kasten, Taschenlampen, Batterien und ein tragbares Radio, wenn ihr eins habt. Hör dir die Verkehrsnachrichten an. Sie raten uns, höher gelegene Straßen zu benutzen. Cisco, du gehst nach unten, schaltest die Elektrik aus und drehst alle Gas- und Wasserleitungen ab. Du weißt, wie man das macht?“
Er hob stolz den Kopf. „Natürlich weiß ich das.“
„Gut, dann mach es. Und sieh nach, ob Mama für den Notfall Trinkwasser im Keller hat. Falls er überflutet ist, bleib draußen, hörst du? Okay dann, ich bin gleich zurück.“
Cisco nickte, erleichtert, etwas tun zu können. Michael holte sich eine dicke Regenjacke und Gummistiefel und machte sich auf die Suche nach seinem Vater.
Der trotzte auf der Ladefläche eines Gärtnerei-Lieferwagens dem Regen und gab Rosa und Manuel wild gestikulierend Anweisungen, die Sommerblumen zu verladen.
„Was zum Henker machst du da?“ schrie Michael ihn an und sprang auf die Ladefläche. Er musste brüllen, um den Sturm zu übertönen. „Es wird gefährlich. Wir müssen verschwinden!“
„Es ist nicht gefährlich!“ brüllte Luis zurück. „Wie sollte mir ein bisschen Wasser gefährlich werden?“
„Du törichter Alter. Nicht um dich mache ich mir Sorgen, sondern um die Kinder!“
Luis wischte sich das Wasser vom Gesicht.
„Sie haben uns zur sofortigen Evakuierung aufgefordert!“ rief Michael Rosa und Manuel zu, die die Arme voller Begonien hatten. Für Geplänkel blieb jetzt keine Zeit. Sie mussten mitkommen, wenn sie überleben wollten. „Der Fluss steigt. Wenn er über die Ufer tritt, kommen wir hier nicht mehr raus. Dann stehen wir bis zum Hals im Wasser!“
„Ich gehe nicht weg!“ schrie Luis zornig zurück. Der Blitz erhellte seine grimmig entschlossene Miene. In seinen Augen blitzte Wahnsinn auf.
„Dann bleib!“ schrie Michael. „Aber ihr …“ Er deutete auf Rosa und Manuel. „Ihr müsst euch um die Kinder kümmern. Fahrt los und nehmt die empfohlene Route. Macht schon!“
„Ich lasse Papa nicht allein!“ schrie Rosa und übertönte den Sturm. Sie stellte die Pflanzen in den Lieferwagen, und der Schlamm hinterließ dunkle Streifen auf ihrem gelben Regenmantel. Sie machte dasselbe entschlossene, trotzige Gesicht wie Luis. „Ich habe unser Land nie verlassen. Fahr du. Du hast Übung im Abhauen!“ Ihre Augen sprühten Funken. Sie bebte schier vor Abneigung gegen ihren Bruder, die sich in diesem Moment der Verzweiflung Bahn brach. Ihr Zorn
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