Das verletzte Gesicht
Kälte und Müdigkeit ließ sich Michael zitternd und keuchend zwischen Schwester und Vater auf den Boden sinken und legte den Kopf gegen die Flurwand.
„Tut mir Leid“, japste Luis. „
Lo siento.“
Michael legte die Arme um Rosa und Luis. So kauerten sie lange Zeit beisammen und zogen Trost aus der gegenseitigen Nähe. Draußen tobte der Sturm und rüttelte am Dach. Unten wirbelte das dunkle Wasser durch ihr Haus. Michael roch den säuerlichen Gestank von Abwasser. Schulter und Wange schmerzten ihn, wo er gegen etwas Hartes geprallt war.
„Wir sehen besser mal nach, was los ist“, sagte er nach einer Weile, sobald er sich ein wenig erholt hatte. Er schaltete die Lampe ein und leuchtete die Treppe hinunter. Das Wasser stieg Stufe für Stufe. Rosa umklammerte ängstlich seinen Arm. Luis fluchte auf Spanisch. Michael schaltete das Licht wieder aus, legte den Kopf gegen die Wand und kniff die Augen zusammen.
„Werden wir sterben?“ fragte Rosa schrill.
„Nicht wenn ich es verhindern kann. Ich habe diesem Land meine Zeit geopfert, mein Leben bekommt es nicht.“ Er wischte sich mit einer Hand übers Gesicht und strich sich die feuchten Haare zurück. „Wenigstens sind die Kinder in Sicherheit. Gottlob hatte Manuel diesmal so viel Verstand, sich dir zu widersetzen und die Kinder zu schützen.“ Er sah seine Schwester an. „Hättest du sie vor diesen Fluten vielleicht bewahren können?“
Die Vorstellung, ihre Kinder gefährdet zu haben, entsetzte sie, doch sofort begann sie sich zu rechtfertigen. „Was geht dich das an? Steck deine Nase nicht in Dinge, von denen du nichts verstehst!“
„Ich verstehe sehr wohl!“ gab er wütend zurück. „Seit ich hier bin, machst du mir Vorhaltungen. Du hast einen Minderwertigkeitskomplex von gigantischen Ausmaßen. Ich kann einstecken, was du austeilst, aber ich sehe nicht tatenlos zu, wie du deine Wut an deinen Kindern auslässt! Ich weiß, wie du mit Cisco umgehst. Ich hätte längst etwas unternehmen müssen. Denk an deine Kinder, Rosa. Die Sucht nach Papas Anerkennung ist dir wichtiger als sie. Wenn du ein Problem mit mir hast, trag es gefälligst mit mir aus!“
„Ich habe allerdings ein Problem mit dir. Du kommst heim, und plötzlich bist du
El Patron
. Der große Mann, der das Sagen hat. Nur weil du ein Mann bist, ein Sohn, bekommst du alles.“
Er schob leicht trotzig das Kinn vor und ähnelte in dieser Geste seinem Neffen. „Ich tue nur meinen Job.“
„Halt den Mund, Rosa!“ donnerte Luis. „Das ist jetzt nicht Zeitpunkt dafür.“
„Wieder sagst du mir, was ich tun soll. Es ist genau der richtige Zeitpunkt. Wir sind hier notgedrungen zusammen. Vielleicht sterben wir. Ich will, dass ihr mir einmal zuhört.“
„Selbst jetzt redest du mit deinem Vater wie …“
Michael schnitt ihm das Wort ab. „Lass sie ausreden, Papa.“
Sie stutzte, verblüfft über seine Unterstützung. „Miguel hat Recht“, sagte sie ruhiger. „Ich bin wütend auf ihn, aber eigentlich geht es um das Verhältnis zwischen uns, Papa. Ich war dir nie gut genug. Immer ging es nur um Miguel und Roberto, die guten Söhne. Bei mir hieß es nur: ‚Rosa schrei nicht, kämpfe nicht, sei nicht wie ein Mann. Hör auf deine Mutter.‘ Heute sagtest du, ich sei macho, als sei das das größte Kompliment!“ Sie wischte sich zornig die Augen. „Sogar mein Körper passte dir nicht, zu groß und zu kräftig. So hätte Roberto aussehen sollen. Ein Leben lang hatte ich das Gefühl, nicht viel wert zu sein. Dass Frauen überhaupt nicht viel wert sind.“
„Ich habe dir immer gesagt, eine Frau ist ihr Gewicht in Gold wert, aber du benimmst dich nicht wie eine Frau!“ beschwerte sich Luis.
„Aber das tue ich doch! Nur sind deine Vorstellungen von Frauen- und Männerrollen total verschroben und von gestern. Ich wäre furchtbar gern aufs College gegangen wie meine Brüder. Aber du sagtest Nein, was braucht eine Frau schon zu lernen, außer eine Familie zu versorgen?“ Sie rang trocken schluckend um Fassung. „Ich habe getan, was du wolltest, Papa. Ich habe geheiratet und dir Enkel geschenkt. Ich habe für dich im Geschäft gearbeitet, als deine Söhne dich verließen. Trotzdem genügte das nicht. Als sie heimkehrten, nahmst du mir wieder alles weg.“
Den Kopf gesenkt, schlug sie mit der Faust auf den Boden. „Weißt du, wie ich mich dabei fühle? Der Zorn frisst sich in meine Seele. Er macht mich blind. Ich versuche ihn zu beherrschen, aber manchmal verliere ich die Kontrolle
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